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Explainer

Die schmerzhafte Zärtlichkeit des Übergangs

Zum Saisonstart 2025/26 findet an der Gessnerallee vom 11. bis 21. September der Programmschwerpunkt «(Un)gentle Learning» statt. Dabei geht es um die Auseinandersetzung mit Prozessen des Übergangs, des Trauerns und des Lernens.

Isabel Gatzke, 27 August 2025

«Sleight of Hand» von Jo Bannon. Copyright: Jo Bannon

«(Un)gentle Learning» fühlt sich an, wie es klingt: so klein, dass es in einer Hand gehalten werden kann, gross genug, um sich anlehnen zu können, sorgfältig und mit einem Blick für Details, nicht spektakulär, sondern langgestreckt in der Zeit. Das englische Wort gentle lässt sich als «sanft», «zart» oder «schonend» übersetzen, aber nichts davon trifft es im Klang genauso gut. 

«(Un)gentle Learning» ist der Beginn einer neuen Saison, nachdem viele Mitarbeiter*innen im Team der Gessnerallee vor gut einem Jahr gemeinsam mit einer neuen Intendanz zu arbeiten angefangen haben. Manche sind dafür nach Zürich gezogen oder haben zu pendeln begonnen, alle haben Aufgaben neu kennengelernt oder knüpfen seither in neuen Konstellationen weiter, was bereits da war.

«Stars Are Never Sleeping, Dead Ones and the Living» von Theres Indermaur und Stephanie Müller. Copyright: Theres Indermaur und Stephanie Müller

Alltägliche sowie radikale Momente des Überschreitens

Neuanfänge und Kontinuitäten im Haus sind eng mit den Themen und Diskursen verwoben, denen sich Künstler*innen an der Gessnerallee widmen. Dazu gehören Fragestellungen und Lebensbereiche, die eine Herausforderung darstellen und Sensibilität erfordern: wie die Auseinandersetzung mit Prozessen des Übergangs, des Trauerns und des Lernens. Alltägliche sowie radikale Momente des Überschreitens und der Veränderung prägen nicht nur individuelle Biografien, sondern sind auch mit Blick auf das Geschehen in der Welt allgegenwärtig: sei es das Zurücklassen von Lebensphasen und Identitätsentwürfen, seien es enge Beziehungen oder die Konfrontation mit der eigenen Sterblichkeit oder dem Tod anderer. 

Der Programmschwerpunkt «(Un)gentle Learning» lädt an einen Ort, an dem diese Momente gemeinsam gefeiert werden können und an dem sich Künstler*innen und Besucher*innen in ästhetischen Erfahrungen begegnen und Transformationen hingeben können. Er findet vom 11. bis 21. September statt, das räumliche Zentrum bildet die Installation «Stars Are Never Sleeping, Dead Ones and the Living» der Bühnenbildnerinnen Theres Indermaur und Stephanie Müller im Nordflügel der Gessnerallee. Ausgehend von der Idee eines Universums der Sinne, entwerfen Indermaur und Müller Installationen, die den Fokus auf unsere Sinne als Werkzeuge des In-der-Welt-Seins lenken und in denen man sich verlieren kann: von Snack zu Lichtprojektionen, Playlists, einer Bibliothek, aufregenden Oberflächen und zum Spiel mit Räumen im Raum. Der Raum ist mit viel Sorgfalt für verschiedene Barrierefreiheitsbedarfe konzipiert: neben Orten, die einzelne Sinne gezielt ansprechen, gibt es einen reizreduzierten Ruhebereich, alle Stationen sind für Rollstuhlfahrer*innen zugänglich und der Weg mit einem Blindenleitsystem ausgestattet.

«Stars Are Never Sleeping, Dead Ones and the Living»
Theres Indermaur und Stephanie Müller

Do, 11.09.
Fr, 12.09.
Sa, 13.09.
So, 14.09.
Mo, 15.09.
Do, 18.09.
Fr, 19.09.
Sa, 20.09.
So, 21.09.

«Fourth Eye, 4.40 AM» von Ceylan Öztrük. Copyright: Flavio Karrer

Nicht-Dazugehören und Desorientierung

Das erste Wochenende beginnt in der Dämmerung des Morgens und des Geistes mit der Premiere «Fourth Eye, 4.40 AM» der in Zürich lebenden Künstlerin Ceylan Öztrük in der Halle der Gessnerallee. Die Narration entfaltet sich entlang eines inneren Prozesses der Empfindungen des Nicht-Dazugehörens und der Desorientierung, dabei entwirft die Performance verschiedene Varianten eines Selbst an der Schwelle zwischen Intention und Instinkt. 

«Fourth Eye, 4.40 AM»
Ceylan Öztrük

Do, 11.09.
Sa, 13.09. 
So, 14.09.
Mo, 15.09.

«Pas Moi» von Diana Anselmo. Copyright: Pietro Bertora

Nach dieser Erfahrung des Auflösens und Wieder-Zusammensetzens lädt die Taube italienische Künstler*in Diana Anselmo am Freitag und Samstag in die Südbühne zur Lecture-Performance «Pas Moi». In Fortsetzung der ersten Lecture-Performance «Je vous aime», die sich den Anfängen des Bewegtbildes und des Kinos widmete, analysiert Diana Anselmo in «Pas Moi» die Ursprünge der ersten technischen Geräte zur Erzeugung, Übertragung und Aufzeichnung von Klang aus Tauber Perspektive. Die zur damaligen Zeit technischen Neuerungen zu Klang sind in ihrer Entwicklung eng mit audistischen und eugenischen Absichten verwoben und dienen dem erzwungenen Lernen in Sprachtherapien, das Taubsein nicht als kulturelle Identität anerkennt, sondern als Krankheit, die es loszuwerden gilt. «Pas Moi» legt die historischen Bezüge dieser konstruierten Norm des Hörens offen und fragt sich, wie man darüber hinaus in die Zukunft denken könnte.

«Pas Moi»
Diana Anselmo

Fr, 12.09.
Sa, 13.09.

«Muskeln aus Plastik» von Kay Matter. Copyright: Bahar Kaygusuz

Eine crip-queere Community-Lesung

Kommen wir zurück zum Zentrum, hier findet am Sonntag des ersten Wochenendes in der Installation «Stars Are Never Sleeping, Dead Ones and the Living» eine Lesung statt. Noa Winter, Dramaturg*in an der Gessnerallee, lädt gemeinsam mit Autor*in Kay Matter zu einer crip-queeren Community-Lesung ein. In «Muskeln aus Plastik» beschäftigt sich Matter mit chronischer Erkrankung und Transness – und der Art und Weise, wie unsere Gesellschaft über «gesunde» Körper nachdenkt und spricht. Denn Matter ist schwer verknallt und schwer erkrankt. 

Dabei versteht sich die Lesung nicht nur als ein Raum des Zuhörens, sondern auch als Austausch gelebter Erfahrungen und richtet sich insbesondere an chronisch kranke und behinderte Menschen und ihre Verbündeten. 

Vielleicht hat «(Un)gentle Learning» ein Narrativ, einen grossen Bogen, der alles zusammenhält. In diesem Narrativ gäbe es nach dem ersten Wochenende einen Wechsel in der Perspektive: wir zoomen raus aus den inneren Prozessen und dem Körper als biopolitischem Austragungsort des Lernens – und erweitern im Programm des zweiten Wochenendes den Horizont, um auf sich ständig verändernde Konstellationen zwischen Generationen und gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen zu blicken.

«Neutralitätstheater – Disco der guten Dienste» mit dibbasey. Copyright: dibbasey

Welche Stimmen verschwinden in der Selbstinszenierung der Schweizer Neutralität?

In den Fokus rückt dabei auch ein Schweizer Mythos, der sich eisern hält: die Neutralität – nicht aus Versehen, sondern weil diese Geschichte politisch, wirtschaftlich und fürs Image ziemlich nützlich ist. Zu Beginn des zweiten Saisonstart-Wochenendes laden Hannan Salamat und Fatima Moumouni ihre Gäste aus Deutschland, Österreich und der Schweiz gemeinsam mit dem Publikum zum «Neutralitätstheater – Mythos Schweiz auf dem Prüfstand!» ein in den Stall6 und fragen: Welche Geschichten und Stimmen fehlen in der mantrahaften Selbstinszenierung der neutralen Schweiz? Welche Kontinuitäten von Ausgrenzung prägen Vergangenheit und Gegenwart? Wer schreibt mit, was wir erinnern und was wir vergessen? Ein Abend zwischen Gespräch und Performance – offen, unbequem und mit einer Party zum Abschluss.

«KOMMANDO AJAX» von Cemile Sahin. Copyright: Miriam Marlene Waldner

Im Nachklang des Neutralitätstheaters erhöht Cemile Sahin am Sonntag des zweiten Wochenendes die Geschwindigkeit mit einer Lesung aus ihrem Roman «KOMMANDO AJAX», der die Lebenswelten einer kurdischen Familie im Exil in den Niederlanden mit dem Jetset der internationalen Kunstwelt zusammenbringt. Im Gespräch mit der Journalistin und Leitung Kommunikation an der Gessnerallee Rahel Bains stellen sich im Stall6 die grossen Fragen: nach Geduld, Liebe zum Detail, Humor und wie man Bilder so schnell wie Schüsse schreibt.

Eine taktile Installation für neugierige Finger und ungläubige Augen

Zwischen den beiden Veranstaltungen verwandelt sich am Freitag und Samstag die Halle in eine taktile Installation für neugierige Finger und ungläubige Augen: Die britische Künstlerin Jo Bannon ist mit «Sleight of Hand» zu Gast und widmet sich wie die Installation «Stars Are Never Sleeping, Dead Ones and the Living» dem Potenzial der Sinne als Werkzeuge der Wahrnehmung. Der komplett in Pink gehaltene Raum spielt mit dem Format der Tastführung und lädt das Publikum ein, an einer Reihe von Berührungsbegegnungen mit unbekannten Objekten, Materialien und Materie teilzunehmen. Durch die Integration von Audiodeskription, Choreografie und einer immersiven ASMR-Klanglandschaft erforscht «Sleight of Hand», was Hände entdecken können, wenn der Griff um die bekannte visuelle Welt gelockert wird und Seltsamkeit auf Sinnlichkeit trifft.

«When the Calabash Breaks» von Tiran Willemse und Melika Ngombe Kolongo (Nkisi). Copyright: Susu Laroche

Improvisation als transformative und politische Praxis

Während die Halle zur Installation wird, überschreitet «(Un)gentle Learning» die Gebäudegrenze der Gessnerallee und öffnet sich hin zum Judith-Gessner-Platz. Aus der Begegnung und gemeinsamen Recherche zwischen dem Tänzer und Choreografen Tiran Willemse und der Musikerin und Komponistin Melika Ngombe Kolongo (Nkisi) entstand die Performance «When the Calabash Breaks». Der Titel ist einer Redewendung entliehen, die in afrikanischen Kulturen häufig verwendet wird, um tiefgreifende Ereignisse zu beschreiben. Kalebassen sind wertvolle Flaschenkürbisse, die zur Aufbewahrung von Wasser und Lebensmitteln dienen – ihr Bruch bedeutet Verlust im Haushalt oder in der Gemeinschaft, je nach Kontext aber auch den Verlust eines Lebens oder eine tiefgreifende Lebensveränderung. «When the Calabash Breaks» ist in spirituellen Kosmologien und afrodiasporischen Ritualen verwurzelt und nutzt Improvisation als transformative und politische Praxis. Der Klang ist intensiv und vielschichtig und wirkt wie eine lebendige Kraft, die Zeit und Raum beeinflusst, während die Bewegungen energetische Dimensionen, Erinnerungen an Ahnen und kollektive Dynamiken tragen. 

Der Bruch der Kalebassen in tausend Teile, das erzwungene Erlernen einer Sprache, das Ertasten von Welten, die Konzentration der Sinne, in der Dämmerung die Orientierung verlieren, das Verlernen von Neutralität und das Schreiben neuer Narrative – in den je spezifischen Praktiken und ästhetischen Setzungen der Künstler*innen des Programmschwerpunkts «(Un)gentle Learning» eröffnen sich Perspektiven auf ermächtigende und harte, schmerzhafte und zarte Momente des Lernens und Neu-Verstehens. 

Weitere Informationen zu unserem Programm finden Sie hier.

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