Wochenbrief
«Plötzlich lauern überall Worst-Case-Szenarien»
Ben Burger und Mona De Weerdt zeigen im Mai das Stück «In Case of Emergency» an der Gessnerallee. Wir haben den Künstler*innen drei Fragen zur Produktion gestellt. Wochenbrief #34

Credits: Extraleben «In Case of Emergency»
Liebe Besucher*innen der Gessnerallee, liebe Künstler*innen
Die Performance «In Case of Emergency» wird Anfang Mai in der grossen Halle der Gessnerallee zum ersten Mal aufgeführt. In diesem Wochenbrief geben Ben Burger und Mona De Weerdt einen Einblick in die Prozesse des Stücks, welches das «poetische Paradox der Katastrophenprävention» aufzeigt und in dem sich der Theaterapparat auf der Bühne quasi selbst aufführt.
Ben Burger, in deinen Arbeiten geht es inhaltlich oft um den Zusammenhang von Kapitalismus und Katastrophe. Im Projekt «In Case of Emergency» beschäftigen du und dein künstlerisches Team sich mit der Gessnerallee als Theaterhaus im Katastrophenfall, und ihr hinterfragt dabei die Prämissen des Katastrophenschutzes. Was hat euch dazu inspiriert?
Ben Burger: Die Projektidee entstand 2020 in einem Gespräch mit dem damaligen technischen Leiter der Gessnerallee. Dabei erfuhren wir, dass die Gessnerallee im Überschwemmungsgebiet der Sihl liegt und dass im Falle eines Sihldammbruchs eine acht Meter hohe Flutwelle auf das Gebäude treffen würde. Dies hat uns überrascht und erschreckt. Seit zwei Jahren lebe ich selbst an der Sihl bei Manegg. Die Sihl ist ein vermeintlich harmloser und unaufgeregter Fluss; dass von ihm so eine vernichtende Bedrohung ausgeht, hätten wir uns nicht vorgestellt. Darüber hinaus stiessen wir auf ein poetisches Paradox der Katastrophenprävention: Die Katastrophe muss erst stattfinden, damit sie verhindert werden kann – und zwar imaginär vor dem inneren Auge der verantwortlichen sicherheitsbeauftragten Person. Für eine adäquate Gefahreneinschätzung muss diese Person immer vom Schlimmsten ausgehen. Hier wird es plötzlich auf eine schrecklich faszinierende Art theatral – die Katastrophe führt sich im Kopf dieser Person auf und befragt die Realität auf ihr Gefahren- und Eskalationspotenzial. Das bekommt in unserer Gegenwart der Polykrisen eine beklemmende Aktualität: Die Destabilisierung des Klimas und natürlich der politischen Weltlage geht einher mit einer schleichenden Erosion unseres Sicherheitsempfindens – plötzlich lauern überall Worst-Case-Szenarien.
Die Gefahr eines Dammbruchs am Sihlsee wird von Expert*innen als sehr klein eingeschätzt, trotzdem wird in Zürich seit Jahren immer wieder über die daraus entstehenden Folgen gesprochen. Weshalb fasziniert die Gefahr eines solchen Dammbruchs hier so sehr? Und was hat eure Recherche ergeben?
Ben Burger und Mona De Weerdt: Das stimmt. Der Dammbruch selbst ist kein wahrscheinliches Ereignis – der Damm ist sogar wortwörtlich bombensicher. Aber Katastrophen entstehen nicht aus einem singulären Vorfall, sondern sind eine Akkumulation verschiedener ungünstiger Ereignisse, die nach und nach sicherheitsrelevante Grenzen sprengen. Uns allen ist die Flutkatastrophe vom Ahrtal in Deutschland vermutlich noch im Gedächtnis. Zu hohe Temperaturen des Mittelmeers verdunsteten mehr Wasser zu Regenwolken, eine durch den Klimawandel verlangsamte atmosphärische Wolkenbewegung und eine plötzliche Drift des Wetters führten im Sommer 2021 dazu, dass die Region Ahrtal mehrere Tage unverhältnismässig von Starkregen betroffen war. Die Böden konnten kein Wasser mehr aufnehmen, die bebauten Steilhänge wirkten wie Wasserrutschen und eine Flutwelle rauschte mit einer unfassbaren Geschwindigkeit durchs Tal. Letztlich versagte der Krisenstab, der sich trotz präziser Warnungen nicht vorstellen konnte, dass der Worst Case wirklich eintrifft. Das Ganze kostete viele Menschen das Leben. Der verantwortliche Politiker liess seinen roten Sonntags-Porsche retten, aber nicht die 12 Menschen mit Behinderungen im Lebenshilfehaus, die den Fluten unvorbereitet zum Opfer fielen. Dies zeigt: Vulnerable Personen wie zum Beispiel mobilitätseingeschränkte Menschen, Menschen mit Sehbehinderung oder Hörbeeinträchtigung sind im Katastrophenfall besonders gefährdet, soziale und auch ökonomische Ungerechtigkeiten manifestieren sich im Ernstfall. Kurz: Katastrophen sind nicht demokratisch.
Das Format bezeichnet ihr als eine begehbare audiovisuelle Installation. Darin entfaltet sich eine Choreografie entlang vorherrschender Sicherheitsbestimmungen, Fluchtwege, Brandschutzregelungen, Gefährdungspotenziale. Die Zuschauer*innen erleben die Aufführung durch die Perspektive der Katastrophenprävention. Was erwartet das Publikum dabei genau?
Ben Burger und Mona De Weerdt: Wir haben die tolle Gelegenheit, die Doppelhalle der Gessnerallee im Gesamten zu bespielen. Das Publikum betritt die Halle und kann sich darin frei bewegen. Die Gäste bekommen Kopfhörer und folgen einer Erzählung, während der Raum sich parallel dazu immer mehr verwandelt. Da wir von den Sicherheitsbestimmungen ausgehen, wird dieser Abend aber nicht von Performer*innen bestritten, sondern von denjenigen Personen, die für gewöhnlich im Hintergrund der Vorstellungen für einen reibungslosen Betrieb sorgen. Die Techniker*innen und Abendleitungen vollziehen in dem Raum offene Umbauten, simulieren Entfluchtungen und imaginieren den Störfall im Theater. Der Theaterapparat führt sich sozusagen selbst auf und befragt, ausgehend von den eigenen Sicherheitsaspekten, wie sicher wir als Gesellschaft eigentlich heute noch sind und auf welchen (alten) Prämissen diese Sicherheit aufgebaut ist. Extremwetterereignisse und Naturkatastrophen mehren sich, das Klima gerät ausser Kontrolle, weltweit beobachten wir einen politischen Rechtsruck. Sicherheitsgarantien und Gewissheiten bröckeln, Demokratien havarieren, eine generelle Destabilisierung manifestiert sich auf vielen Ebenen. Was zuvor sicher erschien, ist es nicht mehr. «In Case of Emergency» ist somit eine poetische Gegenwartsreflexion über die unsicheren und widersprüchlichen Zeiten, in denen wir leben.

Credits: Extraleben «In Case of Emergency»
Jetzt zum wöchentlichen Überblick über Programmpunkte, Zeitungsartikel, Neuigkeiten und alles, was wir mit Ihnen teilen wollen:
23. April, 17.30 Uhr
«Art in Conflict: Transformation politischer Vorstellungskraft durch Klang» von artasfoundation
Künstlerisches Schaffen in Krisengebieten sieht sich mit herausfordernden Fragen konfrontiert. In dieser Gesprächsreihe kommen einmal pro Monat unterschiedliche Akteur*innen zusammen und reflektieren ihre Erfahrungen in Form eines Tischgesprächs. Dieses Mal mit Stas Shärifullá / HMOT (Künstler und Forscher im Bereich Klang und Hörpraxis). Mehr Informationen
8. Mai, 18 Uhr
«Lick Life Against the Direction of Its Fur» von Tyra Wigg
Eine Einladung zu einem spekulativen Dialog: zwischen der «Online-Aufmerksamkeitsökonomie», der Zeit direkt davor und der Biologie unseres Verdauungssystems. Gemeinsam mit den drei Performer*innen begeben wir uns in diesem Showing auf die Suche nach dem kollektiven Fortschritt und werden dabei mit verschiedenen Zeitlichkeiten, Bewegungen und Sätzen aus Social-Media-Feeds konfrontiert. Mehr Informationen
8., 10., 12., 13. Mai, 20 Uhr
«In Case of Emergency – Anatomie einer Katastrophe» von Extraleben
Wenn der Sihldamm in Einsiedeln bricht, muss die Gessnerallee evakuiert werden. Die Arbeit simuliert den Ernstfall und hinterfragt dabei auf kritische und spielerische Weise die Prämissen des Katastrophenschutzes. Mehr Informationen
Zeitung
«Wo, wenn nicht hier, können wir noch?»
Die uns bekannte Welt ist aus den Fugen geraten. Yuvviki Dioh, Agentin für Diversität am Schauspielhaus, beschreibt den Zeitgeist in der Kolumne «Gedanke zu Theater» wie folgt: «Es gestaltet sich schwer, nicht einer Ohnmacht zu verfallen, die uns vorgaukelt, handlungsunfähig zu sein.»
Doch sie findet trotz der Schwierigkeiten Ansätze eines hoffnungsvollen und wirksamen Ortes – und zwar im Theater. «Wir versuchen es, das mit der Gemeinschaft und dem Kollektiven, das mit dem Zusammenkommen, mit dem Zuhören und Lernen, das mit dem Wissen, das mit der Diversität und der Antidiskriminierung und vieles mehr. Oft ist es schön. Oft scheitern wir. Aber wir versuchen es.» Den vollständigen Text finden Sie in unserer dritten Printausgabe und ab heute auch online.
Ausserdem
Im Rahmen des vierteiligen Projekts «OPEN STUDIO» von Dimitri de Perrot können Künstler*innen mit Arbeits- und Lebensschwerpunkt in Zürich sich jetzt auf eine Residenz bewerben. Das Projekt wird während vier Monaten in der Südbühne der Gessnerallee Zürich den Fokus aufs Hören und Zuhören setzen. Dazu werden ausgewählte Künstler*innen oder Gruppen/Kollektive eingeladen, jeweils während dreier Wochen zusammen mit Dimitri de Perrot und seinem Team vom Studio DdP an Klanginszenierungen zu arbeiten. Am Ende wird das Labor für drei Tage dem Publikum geöffnet, das Erarbeitete präsentiert, besprochen und geteilt. Die Bewerbungsdeadline ist am 10. Mai. Alle Details zum Projekt und zum Bewerbungsprozess
Und hier gleich nochmals für Künstler*innen spannende News: Die Company glitch öffnet ab sofort die Türen ihres zentral gelegenen, 200 Quadratmeter grossen Ateliers für professionelle Tanzkompanien und Kulturschaffende, die mit interaktiven Technologien unterwegs sind. Sie bieten dort offene Probeslots, ein Tanzstudio, einen Arbeitsbereich, eine ausgestattete Küche sowie Duschmöglichkeiten an. Weitere Informationen und Fotos des Spaces
Wir freuen uns Ihren Besuch.
Das Team der Gessnerallee
PS: Freuen Sie sich über gute Kulturgeschichten? Oder kennen Sie eine Person, die zwar weniger gern ins Theater geht, aber gerne liest? Dann empfehlen wir ein Abo unserer gedruckten Zeitung, die viermal pro Spielzeit erscheint. Es kostet CHF 20 (exkl. Porto) und Sie können es direkt unter zeitung@gessnerallee.ch bestellen.

Möchten Sie über Ereignisse an der Gessnerallee informiert bleiben? Abonnieren Sie unseren Wochenbrief.
Mehr Beiträge
Wo, wenn nicht hier, können wir noch?
22. April 2025
Von Yuvviki Dioh
In diesem Format schreiben verschiedene Autor*innen über ihre «Gedanken zu Theater». Ein Beitrag von Yuvviki Dioh, Diversitätsbeauftragte am Schauspielhaus, über die Ansätze eines hoffnungsvollen und wirksamen Ortes den sie – mit allen Schwierigkeiten – im Theater findet. Lesen
Wo, wenn nicht hier, können wir noch?
22. April 2025
Von Yuvviki Dioh
In diesem Format schreiben verschiedene Autor*innen über ihre «Gedanken zu Theater». Ein Beitrag von Yuvviki Dioh, Diversitätsbeauftragte am Schauspielhaus, über die Ansätze eines hoffnungsvollen und wirksamen Ortes den sie – mit allen Schwierigkeiten – im Theater findet. Lesen

Das Programm im Mai
16. April 2025
Von Team Gessnerallee
Magische Kräfte, kühle Getränke und rhythmisch-nerdige Battles an der Sihl. Wochenbrief #33 Lesen

Drei Fragen an unsere Diversitätsagent*innen
9. April 2025
Von Team Gessnerallee
Ramona Unterberg und Manuel Gerst über ihren Arbeitsalltag an der Gessnerallee. Wochenbrief #32 Lesen