Liebe Besucher*innen der Gessnerallee, liebe Künstler*innen
Die Performance «In Case of Emergency» wird Anfang Mai in der grossen Halle der Gessnerallee zum ersten Mal aufgeführt. In diesem Wochenbrief geben Ben Burger und Mona De Weerdt einen Einblick in die Prozesse des Stücks, welches das «poetische Paradox der Katastrophenprävention» aufzeigt und in dem sich der Theaterapparat auf der Bühne quasi selbst aufführt.
Ben Burger, in deinen Arbeiten geht es inhaltlich oft um den Zusammenhang von Kapitalismus und Katastrophe. Im Projekt «In Case of Emergency» beschäftigen du und dein künstlerisches Team sich mit der Gessnerallee als Theaterhaus im Katastrophenfall, und ihr hinterfragt dabei die Prämissen des Katastrophenschutzes. Was hat euch dazu inspiriert?
Ben Burger: Die Projektidee entstand 2020 in einem Gespräch mit dem damaligen technischen Leiter der Gessnerallee. Dabei erfuhren wir, dass die Gessnerallee im Überschwemmungsgebiet der Sihl liegt und dass im Falle eines Sihldammbruchs eine acht Meter hohe Flutwelle auf das Gebäude treffen würde. Dies hat uns überrascht und erschreckt. Seit zwei Jahren lebe ich selbst an der Sihl bei Manegg. Die Sihl ist ein vermeintlich harmloser und unaufgeregter Fluss; dass von ihm so eine vernichtende Bedrohung ausgeht, hätten wir uns nicht vorgestellt. Darüber hinaus stiessen wir auf ein poetisches Paradox der Katastrophenprävention: Die Katastrophe muss erst stattfinden, damit sie verhindert werden kann – und zwar imaginär vor dem inneren Auge der verantwortlichen sicherheitsbeauftragten Person. Für eine adäquate Gefahreneinschätzung muss diese Person immer vom Schlimmsten ausgehen. Hier wird es plötzlich auf eine schrecklich faszinierende Art theatral – die Katastrophe führt sich im Kopf dieser Person auf und befragt die Realität auf ihr Gefahren- und Eskalationspotenzial. Das bekommt in unserer Gegenwart der Polykrisen eine beklemmende Aktualität: Die Destabilisierung des Klimas und natürlich der politischen Weltlage geht einher mit einer schleichenden Erosion unseres Sicherheitsempfindens – plötzlich lauern überall Worst-Case-Szenarien.
Die Gefahr eines Dammbruchs am Sihlsee wird von Expert*innen als sehr klein eingeschätzt, trotzdem wird in Zürich seit Jahren immer wieder über die daraus entstehenden Folgen gesprochen. Weshalb fasziniert die Gefahr eines solchen Dammbruchs hier so sehr? Und was hat eure Recherche ergeben?
Ben Burger und Mona De Weerdt: Das stimmt. Der Dammbruch selbst ist kein wahrscheinliches Ereignis – der Damm ist sogar wortwörtlich bombensicher. Aber Katastrophen entstehen nicht aus einem singulären Vorfall, sondern sind eine Akkumulation verschiedener ungünstiger Ereignisse, die nach und nach sicherheitsrelevante Grenzen sprengen. Uns allen ist die Flutkatastrophe vom Ahrtal in Deutschland vermutlich noch im Gedächtnis. Zu hohe Temperaturen des Mittelmeers verdunsteten mehr Wasser zu Regenwolken, eine durch den Klimawandel verlangsamte atmosphärische Wolkenbewegung und eine plötzliche Drift des Wetters führten im Sommer 2021 dazu, dass die Region Ahrtal mehrere Tage unverhältnismässig von Starkregen betroffen war. Die Böden konnten kein Wasser mehr aufnehmen, die bebauten Steilhänge wirkten wie Wasserrutschen und eine Flutwelle rauschte mit einer unfassbaren Geschwindigkeit durchs Tal. Letztlich versagte der Krisenstab, der sich trotz präziser Warnungen nicht vorstellen konnte, dass der Worst Case wirklich eintrifft. Das Ganze kostete viele Menschen das Leben. Der verantwortliche Politiker liess seinen roten Sonntags-Porsche retten, aber nicht die 12 Menschen mit Behinderungen im Lebenshilfehaus, die den Fluten unvorbereitet zum Opfer fielen. Dies zeigt: Vulnerable Personen wie zum Beispiel mobilitätseingeschränkte Menschen, Menschen mit Sehbehinderung oder Hörbeeinträchtigung sind im Katastrophenfall besonders gefährdet, soziale und auch ökonomische Ungerechtigkeiten manifestieren sich im Ernstfall. Kurz: Katastrophen sind nicht demokratisch.
Das Format bezeichnet ihr als eine begehbare audiovisuelle Installation. Darin entfaltet sich eine Choreografie entlang vorherrschender Sicherheitsbestimmungen, Fluchtwege, Brandschutzregelungen, Gefährdungspotenziale. Die Zuschauer*innen erleben die Aufführung durch die Perspektive der Katastrophenprävention. Was erwartet das Publikum dabei genau?
Ben Burger und Mona De Weerdt: Wir haben die tolle Gelegenheit, die Doppelhalle der Gessnerallee im Gesamten zu bespielen. Das Publikum betritt die Halle und kann sich darin frei bewegen. Die Gäste bekommen Kopfhörer und folgen einer Erzählung, während der Raum sich parallel dazu immer mehr verwandelt. Da wir von den Sicherheitsbestimmungen ausgehen, wird dieser Abend aber nicht von Performer*innen bestritten, sondern von denjenigen Personen, die für gewöhnlich im Hintergrund der Vorstellungen für einen reibungslosen Betrieb sorgen. Die Techniker*innen und Abendleitungen vollziehen in dem Raum offene Umbauten, simulieren Entfluchtungen und imaginieren den Störfall im Theater. Der Theaterapparat führt sich sozusagen selbst auf und befragt, ausgehend von den eigenen Sicherheitsaspekten, wie sicher wir als Gesellschaft eigentlich heute noch sind und auf welchen (alten) Prämissen diese Sicherheit aufgebaut ist. Extremwetterereignisse und Naturkatastrophen mehren sich, das Klima gerät ausser Kontrolle, weltweit beobachten wir einen politischen Rechtsruck. Sicherheitsgarantien und Gewissheiten bröckeln, Demokratien havarieren, eine generelle Destabilisierung manifestiert sich auf vielen Ebenen. Was zuvor sicher erschien, ist es nicht mehr. «In Case of Emergency» ist somit eine poetische Gegenwartsreflexion über die unsicheren und widersprüchlichen Zeiten, in denen wir leben.