Die artasfoundation beschäftigt sich seit der Gründung im Jahr 2011 täglich mit diesen Fragen und ist fast von Anfang an im Südkaukasus aktiv. In mehr als 60 Projekten steht die Stiftung im ständigen Dialog mit Künstler*innen aus allen Regionen, in denen sie tätig ist. Wir initiieren und gestalten unsere eigenen Projekte. Diese lassen sich oft am besten durch die Brille der ästhetischen Erfahrung verstehen.
Es gibt viele Antworten und Hunderte von gelebten Erfahrungen auf der ganzen Welt, die die Rolle der Kunst bei der Transformation von Konflikten untersucht haben. Eine mögliche Antwort liegt darin, wie wir ästhetische Erfahrung als soziales Phänomen verstehen.
Diese Perspektive legt nahe, dass die Teilnahme an einer ästhetischen Erfahrung in verschiedenen künstlerischen Formen und Disziplinen an sich schon ein Schritt ausserhalb der Logik des täglichen Lebens ist. Ein Leben, das dazu neigt, Produktivität, Verantwortung und messbare Ergebnisse zu verlangen. Diese funktionale Beziehung zur Handlung verblasst während der ästhetischen Erfahrung, die sich mit der sinnlichen Beziehung beschäftigt.
In diesem Raum verlagert sich der Fokus – nicht auf das Ergebnis, sondern auf die Erfahrung selbst. Wenn wir uns Tausende von Menschen vorstellen können, die sich auf Erfahrungen einlassen, die nicht von praktischen Zielen geleitet werden, sondern von dem Wunsch, sich selbst und andere jenseits von Nützlichkeit oder unmittelbarer Wirkung zu verstehen, dann beginnen wir zu erkennen, wie sich unser Verständnis der Welt erweitern könnte. Die emotionale Wahrnehmung beginnt ebenso wichtig zu werden wie die intellektuelle Analyse.
Sie kamen nach Chkvishi, um gemeinsam zu untersuchen, wie sie sich über ihre politischen und nationalen Trennungen hinweg verbinden können. Diese Dimension des Austauschs ist in konfliktbetroffenen Umgebungen, in denen Isolation oft eine vorherrschende Erfahrung ist, von besonders prägender Bedeutung. Menschen, die einen Konflikt durchleben, fühlen sich in ihrem Trauma und ihrem täglichen Kampf häufig ausgeschlossen, und sie sind überzeugt, dass ihre Realität ignoriert oder abgetan wird. In vielen Fällen gelingt es den globalen Systemen nicht, diese Wahrnehmung wirksam anzu gehen oder abzumildern. Anstatt Anerkennung und Solidarität zu fördern, gelingt es den internationalen Reaktionen oft nicht, den betroffenen Bevölkerungsgruppen zu zeigen, dass sie wirklich gesehen, gehört und geschätzt werden.
Den politischen Spannungen entgegenwirken
Das Projekt «Sharing Stories» ist ein Beispiel für eine Form des künstlerischen Austauschs, die diese Dynamik aufbrechen will. Als generationen- und kulturübergreifende Initiative konzipiert, bringt es Menschen aus abgelegenen Bergregionen in der Schweiz und dem Südkaukasus zusammen und schafft Raum für einen Dialog über Grenzen und Erfahrungen hinweg.
Auf diese Weise will das Projekt den vorherrschenden politischen Spannungen entgegenwirken, indem es menschliche Verbindungen zwischen Gemeinschaften fördert, die oft durch Propaganda, Konfliktdarstellungen und strenge Reisebeschränkungen getrennt sind. Die Künstlerin Olivia Jacques, auch sie ein artasfoundation-Teammitglied, leitet zurzeit die zweite Projektphase von «Sharing Stories» in Abchasien.
Die autonome, aber von der politischen Welt praktisch nicht anerkannte Republik im Süden des Kaukasus steht aufgrund der eingeschränkten Möglichkeiten zur Reise in die Region vor besonderen Herausforderungen. Diese Einschränkungen haben das Team dazu veranlasst, alternative, nachhaltige Formen des Engagements zu erforschen, mit denen translokale Verbindungen auch ohne physische Präsenz aufrechterhalten und vertieft werden können.
Diese und viele andere Projekte sind Beispiele für die «ästhetische» Beziehung oder Wahrnehmung der Realität, die im Mittelpunkt dieses Aufsatzes steht. Und die auch Grundlage dafür ist, warum die in der Philosophie verwurzelte ästhetische Theorie mein Verständnis von Kunst in Konfliktregionen zunehmend geprägt hat. In diesem Zusammenhang argumentiere ich, dass Kunst, wenn Künstler*innen sich mit Krieg, Frieden, Konflikten und dem Leiden und Trauma der Menschen auseinandersetzen, keine Flucht ist und auch nicht zwingend mit meiner Herkunft oder der anderer Menschen zu tun hat. Sie ermöglicht es uns nicht einfach, persönliche Traumata zu verarbeiten oder unsere Ängste in einem sicheren Raum zu bewältigen. Stattdessen bieten Kunst und künstlerische Praktiken eine nicht funktionale Beziehung zur Welt, in der Ressourcen «sicher» verschwendet werden können und Effizienz irrelevant wird.
Geleitet von unseren Sinnen, nehmen wir eine chaotische Welt wahr, die normalerweise strukturiert und aufgeteilt ist. Die ästhetische Theorie ist eine Philosophie der Erfahrung, sie ist eine Philosophie der Möglichkeit der Erfahrung, es geht um die Möglichkeit der Erleichterung und Befreiung in einer Welt der totalen Verwaltung.