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Essay

«Hast du armenische Vorfahren?»

Für unsere Zeitung kooperieren wir regelmässig mit Redaktionen und anderen Projekten in Form von Zweitpublikationen. Dieses Mal schildert die Kulturwissenschaftlerin und Kulturmanagerin Rana Yazaji ihre Arbeit im Kontext der artasfoundation. Dabei gibt sie Einblicke in die Komplexität der Arbeit von Kunstschaffenden in Konfliktregionen.

Rana Yazaji, 9. Juli 2025

Es ist eine Frage, die mir in den letzten drei Jahren öfter gestellt wurde, als ich zählen kann. Ich höre sie, seit ich mit artasfoundation zusammenarbeite und zusammen mit Shoghakat Mlke-Galstyan, Künstlerin und Teammitglied von artasfoundation, eng in die Aktivitäten dieser Stiftung in Armenien eingebunden wurde: «Hast du armenische Vorfahren?»

Für die Recherche «Zeitgenössische Kunst, Populärkultur und Friedensförderung in Osteuropa» interviewte ich Shoghakat zur Frage, wie die Kunst in Armenien ihre Bedeutung entfalten könnte. Sie sagte mir, ich solle gar nicht erst versuchen, Antworten darauf zu finden: «In der Vergangenheit haben wir tatsächlich danach gesucht, aber jetzt hat sich unser Schwerpunkt verlagert: Wir stellen offene Fragen und haben den Mut, Dinge zu diskutieren, für die es keine klaren Lösungen gibt. Wir setzen uns jetzt mit nuancierteren Fragestellungen auseinander.»

Wenn ich auf die Frage nach armenischen Vorfahren antworte: «Nein, nicht dass ich wüsste» – dann entsteht oft eine Pause. Ein Aufflackern von Verwirrung. Ich höre fast die unausgesprochene Rückfrage: «Warum kümmert dich dann das Kunstschaffen in Armenien?» Manchmal ist die Nachfrage vorsichtiger formuliert, sie versteckt sich hinter einer höflichen Unterhaltung, aber die Erwartung bleibt, dass ich mich irgendwie erklären werde.

«Dies ist eines der mächtigsten Dinge, die die Kunst in Zeiten von (Post-)Konflikten bieten kann: die Fähigkeit, die Komplexität von Emotionen in Räumen festzuhalten, die ihrer Natur nach nicht gewalttätig sein können und sich nicht auf identitätsbasierte Konflikte reduzieren lassen.»

Rana Yazaji

Das ist keine aussergewöhnliche Situation. Nur einen Tag bevor ich mich hinsetze, um diesen kurzen Aufsatz zu schreiben, sprach ich mit einem spanischen Kulturwissenschaftler, der sich intensiv mit der mündlichen Geschichte und den Erzählungen der syrischen Diaspora beschäftigt hat.

Irgendwann im Laufe des Gesprächs erzählte er die Geschichte seiner Grosseltern und Eltern, die die Franco-Diktatur und den Spanischen Bürgerkrieg erlebt hatten. Durch sie und ihre Erzählungen, sagte er, fühle er sich zum syrischen Erbe, zur Gemeinschaft und zu den Geschichten hingezogen.

Vielleicht musste er mir das sagen, weil ich Syrerin bin. Vielleicht hat er, wie ich, gelernt, sich zu erklären, bevor die Frage nach dem Grund für ein Interesse an einer spezifischen thematischen Auseinandersetzung überhaupt gestellt wird.

Es ist eine der Kernfragen, die sich in der künstlerischen internationalen Zusammenarbeit insbesondere in fragilen Kontexten stellen. Wo sind die Grenzen und was sind Möglichkeiten, die «Aussenstehende» in das normative Kultur- und Kunstsystem in Konfliktregionen einbringen können? Und wie kann diese Frage aus der tiefen Verankerung in Machtverhältnissen beantwortet werden, um ein Miteinander zu schaffen in einem internationalen System, das diesem entgegenwirkt?

Aufwärmen für den Kampf gegen das tägliche Trauma: Für das Projekt «Tbilisi Crossroads» kamen Künstler*innen aus Georgien, der Ukraine, aus Belarus, Russland, Polen, Palästina und Japan zusammen. Copyright: Tamara Janashia

Mara Züst, Künstlerin und Mitglied des artasfoundation-Teams, hat dies treffend auf den Punkt gebracht, als sie einen Moment aus «Wishing Wishes», einem Tanzprojekt in Dilidschan, Armenien, beschrieb: «Es gab einen magischen Moment. Die 24 Jugendlichen ‒ Mädchen und Jungen im Alter von 12 bis 17 Jahren ‒ tanzten sich warm, tanzten zu sanfter und wilder Musik, hoben die Arme in fliessenden Bewegungen, umkreisten einander in drehenden Bewegungen, hatten Rhythmus in den Beinen und Lachen im Gesicht. Sie hatten vier Workshops mit den Tänzer*innen und Choreograf*innen Meret Schlegel und Kilian Haselbeck aus der Schweiz, ihren Tanzlehrer*innen aus den Grenzdörfern Berd, Ayrum und Koghb, den beiden Musikerinnen der Band Tiezerk aus Jerewan, der Dolmetscherin Stella Loretsyan und den Gründer*innen der Mihr-Tanzgruppe Shoghakat Mlke-Galstyan und ihrem Bruder Tsolak absolviert. Alle tanzten nun gemeinsam. Ein besonderer Moment des Zusammenkommens über gesellschaftlich definierte Unterschiede hinweg, sei es Alter, sei es Nationalität.»

Die Komplexität von Emotionen in Räumen festhalten

Dies ist eines der mächtigsten Dinge, die die Kunst in Zeiten von (Post-)Konflikten bieten kann: die Fähigkeit, die Komplexität von Emotionen in Räumen festzuhalten, die ihrer Natur nach nicht gewalttätig sein können und sich nicht auf identitätsbasierte Konflikte reduzieren lassen.

Kunst bietet auch Raum für gemeinsames Handeln. Im Gegensatz zu anderen Methoden zur Organisation des sozialen Dialogs, insbesondere zur Aushandlung neuer Gesellschaftsverträge, versammelt die Kunst die Menschen nicht um einen tatsächlichen oder vermeintlichen Konflikt. Stattdessen bringt sie sie durch einen Prozess des Machens zusammen.

Die Menschen versammeln sich nicht zu einer ästhetischen Erfahrung, um etwas zu deklarieren, sondern um gemeinsam etwas zu schaffen. Und diese kreative Erfahrung ist eine transformative Erfahrung. Wenn sie bei der Friedensförderung vernachlässigt wird, geht etwas Lebenswichtiges verloren, etwas, das nicht leicht wiederhergestellt oder ersetzt werden kann.

«Tbilisi Crossroads» war eine Kunstresidenz, die vor allem auf dieser Idee basierte und die Künstler*innen mit unterschiedlichen Hintergründen und politischen Ansichten in Arteli Racha, Chkvishi, 2024 zusammenbrachte. Geleitet wurde das Projekt von Dagmar Reichert, Gründerin und Präsidentin von artasfoundation, Tamara Janashia, Gründerin und Direktorin der United Gallery und Mitglied des artasfoundation-Teams, und Giorgi Rodionov. Die Residenz brachte 11 Künstler*innen aus Georgien, der Ukraine, aus Belarus, Russland, Polen, Palästina und Japan zusammen. Sie alle lebten zum Zeitpunkt des Aufenthalts in Georgien und hatten mit den unausgesprochenen Spaltungen sowie Polarisierungen in ihren Herkunftsländern zu kämpfen.

Magischer Moment des Zusammenkommens: «Wishing Wishes», ein Tanzprojekt mit Jugendlichen in Dilidschan, Armenien. Copyright: Mara Züst

Die artasfoundation beschäftigt sich seit der Gründung im Jahr 2011 täglich mit diesen Fragen und ist fast von Anfang an im Südkaukasus aktiv. In mehr als 60 Projekten steht die Stiftung im ständigen Dialog mit Künstler*innen aus allen Regionen, in denen sie tätig ist. Wir initiieren und gestalten unsere eigenen Projekte. Diese lassen sich oft am besten durch die Brille der ästhetischen Erfahrung verstehen.

Es gibt viele Antworten und Hunderte von gelebten Erfahrungen auf der ganzen Welt, die die Rolle der Kunst bei der Transformation von Konflikten untersucht haben. Eine mögliche Antwort liegt darin, wie wir ästhetische Erfahrung als soziales Phänomen verstehen.

Diese Perspektive legt nahe, dass die Teilnahme an einer ästhetischen Erfahrung in verschiedenen künstlerischen Formen und Disziplinen an sich schon ein Schritt ausserhalb der Logik des täglichen Lebens ist. Ein Leben, das dazu neigt, Produktivität, Verantwortung und messbare Ergebnisse zu verlangen. Diese funktionale Beziehung zur Handlung verblasst während der ästhetischen Erfahrung, die sich mit der sinnlichen Beziehung beschäftigt.

In diesem Raum verlagert sich der Fokus – nicht auf das Ergebnis, sondern auf die Erfahrung selbst. Wenn wir uns Tausende von Menschen vorstellen können, die sich auf Erfahrungen einlassen, die nicht von praktischen Zielen geleitet werden, sondern von dem Wunsch, sich selbst und andere jenseits von Nützlichkeit oder unmittelbarer Wirkung zu verstehen, dann beginnen wir zu erkennen, wie sich unser Verständnis der Welt erweitern könnte. Die emotionale Wahrnehmung beginnt ebenso wichtig zu werden wie die intellektuelle Analyse.

Sie kamen nach Chkvishi, um gemeinsam zu untersuchen, wie sie sich über ihre politischen und nationalen Trennungen hinweg verbinden können. Diese Dimension des Austauschs ist in konfliktbetroffenen Umgebungen, in denen Isolation oft eine vorherrschende Erfahrung ist, von besonders prägender Bedeutung. Menschen, die einen Konflikt durchleben, fühlen sich in ihrem Trauma und ihrem täglichen Kampf häufig ausgeschlossen, und sie sind überzeugt, dass ihre Realität ignoriert oder abgetan wird. In vielen Fällen gelingt es den globalen Systemen nicht, diese Wahrnehmung wirksam anzu gehen oder abzumildern. Anstatt Anerkennung und Solidarität zu fördern, gelingt es den internationalen Reaktionen oft nicht, den betroffenen Bevölkerungsgruppen zu zeigen, dass sie wirklich gesehen, gehört und geschätzt werden.

Den politischen Spannungen entgegenwirken

Das Projekt «Sharing Stories» ist ein Beispiel für eine Form des künstlerischen Austauschs, die diese Dynamik aufbrechen will. Als generationen- und kulturübergreifende Initiative konzipiert, bringt es Menschen aus abgelegenen Bergregionen in der Schweiz und dem Südkaukasus zusammen und schafft Raum für einen Dialog über Grenzen und Erfahrungen hinweg.

Auf diese Weise will das Projekt den vorherrschenden politischen Spannungen entgegenwirken, indem es menschliche Verbindungen zwischen Gemeinschaften fördert, die oft durch Propaganda, Konfliktdarstellungen und strenge Reisebeschränkungen getrennt sind. Die Künstlerin Olivia Jacques, auch sie ein artasfoundation-Teammitglied, leitet zurzeit die zweite Projektphase von «Sharing Stories» in Abchasien.

«Kunst ist, wenn Künstler*innen sich mit Krieg, Frieden, Konflikten und dem Leiden und Trauma der Menschen auseinandersetzen, keine Flucht und hat auch nicht zwingend mit meiner Herkunft oder der anderer Menschen zu tun.»

Rana Yazaji

Die autonome, aber von der politischen Welt praktisch nicht anerkannte Republik im Süden des Kaukasus steht aufgrund der eingeschränkten Möglichkeiten zur Reise in die Region vor besonderen Herausforderungen. Diese Einschränkungen haben das Team dazu veranlasst, alternative, nachhaltige Formen des Engagements zu erforschen, mit denen translokale Verbindungen auch ohne physische Präsenz aufrechterhalten und vertieft werden können.

Diese und viele andere Projekte sind Beispiele für die «ästhetische» Beziehung oder Wahrnehmung der Realität, die im Mittelpunkt dieses Aufsatzes steht. Und die auch Grundlage dafür ist, warum die in der Philosophie verwurzelte ästhetische Theorie mein Verständnis von Kunst in Konfliktregionen zunehmend geprägt hat. In diesem Zusammenhang argumentiere ich, dass Kunst, wenn Künstler*innen sich mit Krieg, Frieden, Konflikten und dem Leiden und Trauma der Menschen auseinandersetzen, keine Flucht ist und auch nicht zwingend mit meiner Herkunft oder der anderer Menschen zu tun hat. Sie ermöglicht es uns nicht einfach, persönliche Traumata zu verarbeiten oder unsere Ängste in einem sicheren Raum zu bewältigen. Stattdessen bieten Kunst und künstlerische Praktiken eine nicht funktionale Beziehung zur Welt, in der Ressourcen «sicher» verschwendet werden können und Effizienz irrelevant wird.

Geleitet von unseren Sinnen, nehmen wir eine chaotische Welt wahr, die normalerweise strukturiert und aufgeteilt ist. Die ästhetische Theorie ist eine Philosophie der Erfahrung, sie ist eine Philosophie der Möglichkeit der Erfahrung, es geht um die Möglichkeit der Erleichterung und Befreiung in einer Welt der totalen Verwaltung.

artasfoundation

artasfoundation, die Schweizer Stiftung für Kunst in Konfliktregionen, initiiert eigene Kunstprojekte und begleitet sie in der Umsetzung. Sie untersucht, wie Freiräume für Kunst zu Konfliktvermittlung und Friedensförderung beitragen können. Sie ist eine unabhängige und überparteiliche operative Stiftung. Finanziert aus Spendengeldern zahlreicher Menschen aus der Zivilgesellschaft, wurde sie 2011 gegründet.

In Kooperation mit der Gessnerallee veranstaltet die Stiftung seit der Spielzeit 2024/25 monatlich die Gesprächsreihe «Art in Conflict».

Gesprächsreihe «Art in Conflict»

Mi, 24.9.2025, 17.30 Uhr

Mi, 15.10.2025, 17.30 Uhr

Mi, 26.11.2025, 17.30 Uhr

Mi, 17.12.2025, 17.30 Uhr

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