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Interview

Wie klingt Erinnerung?

Die musikalische Performance der Choreografin und Tänzerin Nadia Beugré dreht sich um die eigene Herkunftsgeschichte, um die (Re-)Konstruktion vergangener Ereignisse.

Giulia Bernardi, 5. September 2025

Nadia Beugré beschäftigt sich mit Transformation, Erbe und Weiter gabe. Copyright: Bea Borgers

Giulia Bernardi: Sie sind für die Recherche zu Ihrem neuen Stück nach Yikakou zurückgekehrt, einst ein kleines Dorf in der Elfenbeinküste in Westafrika, in dem Sie aufgewachsen sind. Dieses Dorf gibt es in seiner ursprünglichen Form heute nicht mehr. Was haben Sie dort vorgefunden?

Nadia Beugré: Es gab ein grosses Kakaofeld, einen Wald, ich hörte weit entfernte Stimmen. Auf der Suche nach dem Grab meiner Grosseltern fand ich zufällig das Haus wieder, in dem sie gewohnt hatten. Mein Vater hatte es aus Zement neu gebaut. Heute hat das Haus kein Dach mehr, die Mauern sind eingefallen, nur das Fundament ist übrig geblieben. Es gibt nur noch Bäume, Laub oder vorbeifahrende Autos, die den Staub der Strasse aufwirbeln.

Welche Rolle spielt das Grab Ihrer Grosseltern für Sie?

Als ich vor dem Grab stand, habe ich angefangen, über Leere und Abwesenheit nachzudenken, über das Verschwinden – alles wichtige Elemente in meinem Stück. Es gibt auch eine Fotografie des Grabs: Es hat eine karierte Fassade und ich liege davor, inmitten der grünen Landschaft. Ich finde, das Grab ähnelt vielmehr einem Haus, einem Palast vielleicht.

Haben das Dorf, die Leere und die Abwesenheit, die Sie dort vorgefunden haben, auch einen Klang?

Es gibt physische Klänge, von vorbeifahrenden Autos oder Ziegen. Und dann gibt es jene, die bereits vergangen sind. Ich habe versucht, mir diese Klänge vorzustellen. Die Musikalität der Erinnerung, sozusagen. Darauf habe ich auch den Fokus für mein Stück gelegt.

«Es ist mir wichtig, zu erinnern, nicht zu vergessen. Denn erinnern bedeutet letztlich auch, diesem Dorf wieder Leben einzuhauchen.»

Das klingt poetisch. Könnten Sie dafür ein Beispiel nennen?

Wenn man an die eigene Jugend zurückdenkt, dann erinnert man sich an gewisse Bilder, an gewisse Stimmen, vielleicht an jene anderer Kinder. Für solche Erinnerungen versuche ich einen Klang zu finden. Während meiner Recherche ist mir bewusst geworden, dass Klänge nicht nur bewusst hergestellt werden, sondern spontan entstehen können: wenn der Wind durch die Blätter weht, ein Baum fällt, wenn man ein Loch gräbt. Es sind genau solche Klänge, mit denen ich arbeiten wollte.

Würden Sie das Stück «Epique! (for Yikakou)» als autobiografisch beschreiben?

Ja, ich denke schon. Ich wollte wissen, woher meine Eltern und Grosseltern kommen, abseits der Geschichten, die mir erzählt und übermittelt wurden. Ich wollte aber auch etwas über mich selbst erfahren, die Resonanz erkunden, die mein Name hat. In meinem Stück geht es um Transformation, um Erbe und Weitergabe – und es geht auch um Erinnerung. Also habe ich angefangen, Dinge und Erinnerungen zu konstruieren und zu überlegen, wie ich sie auf die Bühne bringe. Es ist mir wichtig, zu erinnern, nicht zu vergessen. Denn erinnern bedeutet letztlich auch, diesem Dorf wieder Leben einzuhauchen.

Wie können Geschichten Einzug ins kollektive Gedächtnis halten? Copyright: Werner Strouven

Dann lassen Sie uns gemeinsam erinnern. Was ist die Geschichte von Yikakou?

Als mein Vater noch lebte, wurden die Bewohner*innen des Dorfes von der Regierung zur Umsiedlung aufgefordert, weil der Boden sumpfig war, weil sich das Dorf angeblich nicht schnell genug entwickelte. Aber mein Vater leistete Widerstand und rief auch seine Nachbar*innen dazu auf, das Land nicht zu ver- lassen. Leider verliessen die Menschen das Dorf nach seinem Tod dann doch. Heute soll dieses Gebiet wieder erschlossen, das Land verkauft werden. Diese Entwicklung war der Ausgangspunkt, um über die Geschichte meiner Eltern nachzudenken. Ich frage mich: Kann ein Ort wie dieser, an dem es so viele Geschichten gibt, durch die Kunst wiederbelebt oder vielleicht sogar verändert werden? Wie können diese Geschichten Einzug ins kollektive Gedächtnis halten? Ich habe festgestellt, dass vom Haus meiner Grosseltern, vom Fundament, das übrig geblieben ist, immer noch eine unheimliche Kraft ausgeht.

Ich finde es interessant, dass Sie von der Konstruktion und nicht von der Rekonstruktion von Erinnerung sprechen. Sind für Sie Erinnerungen immer konstruiert? Oder anders gefragt: Gibt es für Sie so etwas wie eine «wahre» oder «authentische» Erinnerung?

Ich weiss nicht, was wahr ist, geschweige denn, was authentisch ist. Ich weiss nur, dass es das Sichtbare und das Unsichtbare gibt. Die Erinnerung, die ich konstruiere, ist meine eigene, aber auch die der Menschen, die im Dorf gelebt haben, es verlassen haben oder dort begraben sind. Die Toten wurden in Yikakou so nah wie möglich bei den Lebenden beerdigt. Dieses leere Dorf ist dennoch bewohnt, enthält Spuren, Stimmen und Geschichten. Es sind genau diese Stimmen und Geschichten, die ich auf der Bühne erlebbar machen möchte.

Während Ihrer Performance stehen Sie mit den Musikerinnen Charlotte Dali und Salimata Diabate auf der Bühne. Warum haben Sie sich für diese Konstellation entschieden?

Ich wollte nicht allein auf der Bühne stehen. Es ist ein sehr intimes Stück, ich gebe viel von mir preis. In meinem Stück geht es um Erinnerung, um transgenerationale Weitergabe. Charlotte Dali, Salimata Diabate und ich gehören zu einer dieser Generationen. Diabate hat zum Beispiel über das Erbe der Musik recherchiert, die ihr überliefert wurde. Diese Konstellation schien mir passend.

Nadia Beugré: «Ich wollte nicht allein auf der Bühne stehen. Es ist ein sehr intimes Stück, ich gebe viel von mir preis.» Copyright: Werner Strouven

Welche Elemente sind für Ihre Performance wichtig?

Ich habe mich für «Epique! (for Yikakou)» auf repetitive Elemente konzentriert, auf Wiederholung. In dieser Wiederholung liegt eine gewisse Spiritualität: Sie verwandelt den Körper, den Raum.

In Ihrem Stück verkörpern Sie eine Reihe weiblicher Figuren ‒ aus der eigenen Familie oder aus der Mythologie. Welche Rolle spielen diese Figuren in Ihrem Stück?

Ich wollte mich auf die Suche nach den starken Frauen machen, die im kollektiven Gedächtnis keinen Platz finden. Gbahihonon, meine Ururgrossmutter, hat mir ihren Namen vermacht, der so viel bedeutet wie: «jene, die sagt, was sie sieht». Sie war eine starke Frau, die die Gemeinschaft vor physischen und mystischen Angriffen verteidigte. Ich wollte das Gewicht dieses Namens mit dem Körper spüren, den ich heute habe. Eine weitere Figur ist Dô-Kamissa, «die Büffelfrau», eine der zentralen Held*innen im Epos von Sundiata Keïta [der erste Herrscher des Königreichs Mali; Anm. d. Red.]. Sie hatte die Geburt von Sundiata vorhergesagt. Sogolon Kondé, «die hässliche Frau», die den König heiratet, fasziniert mich eben- falls. Ich fühle mich von solchen Figuren angezogen, weil man das, was am Rande steht, oft nicht beachtet. Ich trage die Stimmen dieser Frauen in mir, durch sie sind die Bilder des Stücks entstanden.

Ihr Stück fühlt sich eher nach einem Ausgangsals einem Schlusspunkt an: Ich stelle mir vor, dass es für die Auseinandersetzung mit der eigenen Herkunftsgeschichte wohl nie ein Ende gibt.

Es ist eine lange Reise, ein intensiver Prozess, mit dieser Realität konfrontiert zu werden, mit diesem verschwundenen Dorf. Vielleicht ist das Stück auch eine Initiationsreise. Während der Recherche ist viel Material entstanden: die filmische und fotografische Dokumentation vor Ort, die Erinnerungen. Das könnten mögliche Anknüpfungspunkte sein. Es geht um Dauer, um Kontinuität.

In den letzten Stücken haben Sie hauptsächlich als Choreografin gewirkt. Weshalb stehen Sie bei «Epique! (pour Yikakou)» nun auch als Tänzerin auf der Bühne?

Es ist mein zweites Solo, dreizehn Jahre nach «Quartiers Libres». Ich verwende das Wort Solo, obwohl ich nicht allein auf der Bühne stehe: Es ist eine sehr persönliche Reise dorthin, wo ich herkomme. Ich verhandle, was mir jene mitgegeben haben, die vor mir kamen, und das, was ich jenen hinterlasse, die nach mir kommen werden. Es wäre schwierig – und vielleicht auch ungerecht – gewesen, dieses Gewicht jemand anderem aufzubürden.

Zur Künstler*in

In der Elfenbeinküste geboren, trat Nadia Beugré erstmals 1995 als Teil des Dante Theatre auf. Zwei Jahre später wurde sie Gründungsmitglied von Béatrice Kombés Tanzensemble TchéTché. Nach einer Ausbildung an Germaine Acogny’s l’École des Sables im Senegal nahm sie 2009 an «Ex.e.r.ce» teil, Mathilde Monniers Programm für talentierte, aufstrebende Choreograf*innen am Centre Chorégraphique National de Montpellier. Dort arbeitete sie am Material für «Quartiers Libres»,ihr erstes Solo. Es folgten «Legacy», «Tapis Rouge» und «Roukasskass Club».

«L’Homme rare», ein Quintett nur mit Männern, wurde unter anderem beim Festival Antigel in Genf aufgeführt. Im Jahr 2023 folgten das Duo «Filles-Pétroles» und das Quintett «Prophétique (on est déjàné.es)».

«Epique! (for Yikakou)»
Nadia Beugré

Do, 2.10., 20 Uhr

Fr, 3.10., 20 Uhr

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