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Porträt

«Pause ist auch eine Form der Bewegung»

Die schottische Performerin und Choreografin Claire Cunningham verwebt in ihren Arbeiten Krücken und Ausruhen, Schwere und Leichtigkeit. Ein Porträt über eine der wichtigsten behinderten Künstlerinnen Grossbritanniens.

Anna Miller, 1. Oktober 2025

Cunningham arbeitet spartenübergreifend – von intimen Soloperformances bis zu gross angelegten Ensemble-Stücken. Copyright: Sven Hagolani

Da stand sie, in einem Raum voller professioneller Tänzer*innen, und zeigte ein paar Tanzabfolgen mit ihren Krücken. Es war ein im Grunde ganz normaler Trainingstag vor ein paar Jahren, Claire Cunningham nahm an einem Projekt in Schottland teil, bei dem behinderte und nicht behinderte Tänzer*innen gemeinsam mit Mobilitätshilfen arbeiteten. Zum ersten Mal befand sie sich in einem professionellen Tanzraum, in dem nicht behinderte Tänzer*innen unter ihrer Anleitung mit Krücken experimentierten – sie spielten mit ihnen, versuchten, sich mit ihnen zu bewegen und sie zu verstehen.

Und bei Claire verschob sich in diesem Augenblick etwas im Kopf. «Am nächsten Tag hatten sie alle Muskelkater. Und ich begriff: Das, was ich da jeden Tag leiste, mit meinem Körper, das ist für die anderen fremd. Das sind ihre Körper nicht gewohnt. Und das, was ich jeden Tag körperlich leiste, ist nicht einfach für nicht behinderte Körper. Mein Körper trägt ein eigenes Wissen in sich.» Das sei ein Schlüsselmoment gewesen: zu erkennen, dass ihr eigener Körper nicht schwach und bedürftig ist, sondern auch stark und virtuos.

Dass Claire Cunningham über eine Bewegungssprache verfügt, die anderen nicht automatisch zugänglich ist. Die sich niemand aneignet in einer Tanzwelt, die zu wissen meint, wie Tanzen funktionieren und aussehen muss, sich anfühlen soll. Die Tanz denkt und zeigt für und von Menschen ohne Behinderung. Mit schlanken, starken Körpern, die vermeintlich alles tun können. Der individuelle Tanzstil eines Menschen mag unterschiedlich sein, doch die Art und Weise, wie er gelehrt, geübt und körperlich umgesetzt wird, ist oft standardisiert. Kodifiziert, wie Claire Cunningham sagt, «auch wenn das oft unbewusst geschieht».

Alll die Themen, die Claire Cunningham beschäftigen, werden nicht bloss angesprochen, sondern in ihre Performances integriert. Copyright: Hendnes Dansens

Statt aber Tanztechniken zu lernen, die schon existierten, für Körper, die so anders waren als ihr eigener, drehte Claire die Logik für sich um. Und begann, ihre eigene Bewegungssprache zu erkunden. «Ich fand, dass meine Zeit besser investiert war, wenn ich meine eigenen Bewegungsabläufe innerhalb meiner ganz eigenen Realität erkundete. Und mich fragte: Wie bewege ich mich? Wie sehe ich die Welt?»

Heute, Jahre nach diesem Tag, zählt Claire Cunningham, geboren 1977 in Schottland, zu den bedeutendsten britischen behinderten Künstlerinnen. Sie lebt in Glasgow und nutzt Krücken nicht nur als Hilfsmittel, sondern als zentrales künstlerisches Ausdrucksmittel in ihren Tanz- und Performancearbeiten.

Für Claire Cunningham sind ihre Krücken körperliche Erweiterung, sind Teil ihres Körpers, ihres Alltags, ihres Berufs. Sie arbeitet spartenübergreifend – von intimen Soloperformances bis zu gross angelegten Ensemble-Stücken – und nutzt Interviews, Musik, Skulpturen und Bewegungen, um das Verhältnis von Körper, Glaube, Behinderung und Identität neu zu verhandeln.

In Produktionen wie «Give Me a Reason to Live», «Guide Gods», «Ménage à Trois» oder «Thank You Very Much» verbindet sie tief persönliche Themen mit gesellschaftlicher Kritik. So auch in «Songs of the Wayfarer», ihrem neuen Stück, das sie an der Gessnerallee zeigt. Inspiriert unter anderem durch Gustav Mahlers «Lieder eines fahrenden Gesellen», durch ihre Lebenserfahrung als behinderte Person, die Erinnerung an ihre Ausbildung zur Sängerin sowie das Wissen von Bergsteiger*innen und crip* allies**, macht sich Claire Cunningham auf den Weg, bekannte und unbekannte Landschaften zu durchqueren.

«Ich möchte, dass sich Menschen verbunden fühlen, wenn sie meine Stücke sehen. Dass sie merken: Ich darf sein, alles an mir darf sein und es ist richtig, wie es ist.»

Claire Cunningham

In ihrem Solo fragt sie, was es bedeutet, zu wandern, nach grossen Höhen zu streben. Wie ist es, von denen unter uns zu lernen, die wie Vierbeiner durch Krücken nach dem Boden streben? Was bedeutet es, weiterzugehen und, vor allem, zu erkennen, wann der Moment ist, umzukehren? In «Songs of the Wayfarer» wird die persönliche Reise zum Liebeslied – tief hinein in die Trauer, aber auch tief hinein ins Glück.

«‹Songs of the Wayfarer› ist ein Stück über das Loslassen, über das Trauern, aber eben auch über das Lachen», sagt Cunningham. «Und ich liebe Humor und Leichtigkeit. Ich möchte, dass sich Menschen verbunden fühlen, wenn sie meine Stücke sehen. Dass sie merken: Ich darf sein, alles an mir darf sein und es ist richtig, wie es ist.» Deshalb beschränkt sich das Erleben von Cunninghams Kunst nicht bloss auf das Betrachten eines Stücks.

Der Achtsamkeit gegenüber Körper und Raum wird auch abseits der Bühne Rechnung getragen. So gilt bei den Aufführungen, dass die Besucher*innen frühzeitig in den Raum kommen dürfen. Um sich zu orientieren. Um sich zu fragen: Wie geht es mir hier drin? Wo möchte ich sitzen? Was brauche ich, um mich wohlzufühlen? Das ist Teil des Konzepts. «Wir laden dazu ein, sich einzustimmen, statt überwältigt zu werden», sagt Cunningham.

Das eigene Tempo – für Cunningham ist das nicht nur körperlich, sondern auch politisch. Copyright: Sven Hagolani

Jeder Person ihren Rhythmus

Diese Idee, dass dass jede Person ihren eigenen Rhythmus braucht und schlicht: Zeit, um sein Leben zu meistern und seine Energien einzuteilen, ist ein wiederkehrendes Thema in den Arbeiten von Cunningham. Ein Thema, das in dieser nervösen, schnelllebigen, ausgebrannten Zeit nicht aktueller sein könnte. Denn im kapitalistischen System sind wir, was wir leisten. Da passt Behinderung nicht ins Konzept. «Wir verfügen alle nicht über endlose Ressourcen. Erfahrung von Behinderung macht diesen Prozess sichtbar.» Daraus entsteht eine andere Form von Wissen: über Zeit, über Raum, über das eigene Tempo.

Für Cunningham ist das nicht nur körperlich, sondern auch politisch. «Die Gesellschaft will, dass wir funktionieren. Aber was ist, wenn wir es nicht tun? Wenn der Körper nicht mitmacht? Wenn der Tag anders verläuft als geplant?» Ein behindertes Leben, sagt sie, bringe eine besondere Art von Wissen mit sich – die Fähigkeit, sich ständig neu auszurichten, von alltäglichen Abläufen bis hin zu tiefgreifenden Lebensentscheidungen. Und auch: zu lernen, was man festhalten muss – und was man besser leicht hält oder loslässt.

«Ich muss mit meinem Körper nicht dort sein, wo andere mich erwarten. Ich bin dort, wo mein Körper gerade sein kann.»

Claire Cunningham

Die Gemeinschaft der behinderten Menschen sei ein Geschenk. «Weil sie weiss, wie man flexibel bleibt. Wie man weicher miteinander umgeht. Wie man sich gegenseitig auffängt.» Behinderung werde in dieser Welt so oft als Schwäche gesehen. «Dabei ist sie auch: Fähigkeit. Weisheit. Stärke. Von behinderten Menschen kann eine ganze Gesellschaft lernen.»

Und so werden all die Themen, die Cunningham beschäftigen, nicht bloss angesprochen, sondern in ihre Performances integriert. Krücken und Pausen, Schwere und Leichtigkeit. «Früher hätte ich durchgezogen und hätte mich danach von der Performance erholt, hinter der Bühne, abseits des Publikums», sagt sie. Heute fügt sie das Innehalten und die Pause in die Performance mit ein. Und macht das Stillwerden so zum Teil ihrer Choreografie. «Rest is also a form of movement», sagt sie. Ausruhen ist auch eine Form von Bewegung. «Ich muss mit meinem Körper nicht dort sein, wo andere mich erwarten. Ich bin dort, wo mein Körper gerade sein kann.»

* Politische Selbstbezeichnung mancher behinderter Menschen.

** Behinderte und nicht behinderte Menschen, die sich solidarisch mit crips zeigen. Dabei geht es um Zuhören, Verstärken von Stimmen, das Hinterfragen eigener Privilegien und aktives Handeln gegen ableistische Strukturen.

Zur Künstlerin

Claire Cunningham ist eine Performerin und Choreografin multidisziplinärer Arbeiten mit Sitz in Glasgow, Schottland. Sie ist international renommiert und eine der meistgefeierten behinderten Künstlerinnen Grossbritanniens, ihre Arbeit basiert oft auf dem Studium und dem Gebrauch/Fehlgebrauch ihrer Krücken und der Erkundung des Potenzials ihrer eigenen spezifischen Körperlichkeit, wobei sie traditionelle Tanztechniken (die für nicht behinderte Körper entwickelt wurden) bewusst ablehnt.

Dies geht einher mit einem tiefen Interesse an der gelebten Erfahrung von Behinderung und deren Auswirkungen nicht nur als Choreografin, sondern auch in Bezug auf gesellschaftliche Vorstellungen von Wissen, Wert, Verbindung und gegenseitiger Abhängigkeit.

Im Jahr 2021 wurde Claire beim Deutschen Tanzpreis für ihre herausragende künstlerische Entwicklung im Tanz geehrt. Seit Oktober 2023 ist Claire Einstein-Profil-Professorin für «Choreographie, Dance and Disability Arts» am Hochschulübergreifenden Zentrum Tanz (HZT) in Berlin. Claire hat im November 2024 ihr neues Solostück «Songs of the Wayfarer» uraufgeführt.

«Songs of the Wayfarer»
Claire Cunningham

Fr. 07.11.
20:00

Sa. 08.11.
20:00

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