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Der Lesbian Gaze und der Blick als Einladung

Mal liegt der Fokus ganz nah am Körper, mal auf dem grossen Ganzen, das die Person ausmacht: Im Theater wird der Blick zum Aushandlungsfeld von Beziehungen und Begehren zwischen den Performer*innen und mit dem Publikum.

Isabel Gatzke, 23. November 2024

Ewa Dziarnowska und Leah Marojević halten und untersützen sich, während sie sich exponieren. Copyright: Ewa Dziarnowska

Die Südbühne der Gessnerallee ist für «This resting, patience» komplett mit einem strahlenden, royalblauen Teppich ausgelegt, der sich gegen das Weiss der Wände abhebt. Das Publikum sitzt auf Sitzsäcken und Stühlen im Raum verteilt, eng beieinander oder für sich, in Gedanken versunken oder konzentriert. «What the world needs now, is love sweet love», gesungen von Dionne Warwick, spielt im Loop, während Ewa Dziarnowska und Leah Marojević seit mehreren Stunden tanzen. Ihre Blicke bleiben an einzelnen Personen im Publikum hängen, verfangen sich und lassen wieder los. Immer wieder schauen sich die beiden zu, halten sich und unterstützen sich über die drei Stunden andauernde Performance, die in ein raues Archiv der Sinnlichkeit einlädt.

«This resting, patience» von Ewa Dziarnowska – ein Teil des Backslash Festivals – ist neben «Eat Me Now!» von Arlette Dellers eine von mehreren Arbeiten, die in der Saison 2024/25 an der Gessnerallee gezeigt werden und den Blick – wie wir einander anschauen und welche Bedeutung darin entsteht – als ein künstlerisches Mittel nutzen.

«Aus einer queeren Perspektive ist der lesbische Blick ein Werkzeug, um sich von Heterosexualität und Männlichkeit abzugrenzen.»

Arlette Dellers

Im Alltäglichen sind Momente des Sich-Betrachtens oft flüchtig und Blicke, insbesondere zwischen Unbekannten, wenden sich im stillen Einvernehmen schnell wieder voneinander ab. In einer Inszenierung, sei es im Theater oder in anderen Räumen der ästhetischen Auseinandersetzung, bekommt der Blick eine veränderte Bedeutung. Er wird zum Aushandlungsfeld von Beziehungen zwischen den Performer*innen und mit dem Publikum, beeinflusst Dynamiken von Macht und Unterwerfung, Anziehung und Distanz und gestaltet den geteilten Raum der Aufführung. 

Der lesbische Blick als fester Bestandteil des Konzepts

Die Tänzerin und Choreografin Arlette Dellers hat für die Premiere von «Eat Me Now!» im Mai 2025 an der Gessnerallee eine klare Vorstellung des Blicks. Die Produktion ist im Prozess des Entstehens und bringt fünf Tänzer*innen mit unterschiedlichem tänzerischem Hintergrund und unterschiedlichen Körpern zusammen, um die Objektifizierung von lesbischer Sexualität und die Sexualisierung des weiblich gelesenen Körpers zu thematisieren und andere Möglichkeiten zu leben. Lesbisch ist für Arlette ein feministischer Kampfbegriff und der lesbische Blick fester Bestandteil ihres Konzepts: «Lesbisch wird in einem heterosexuellen Kontext häufig verwendet, um das Begehren zwischen cis Frauen zu beschreiben. Aus einer queeren Perspektive hingegen ist der lesbische Blick ein Werkzeug, um sich von Heterosexualität und Männlichkeit abzugrenzen. Die Weiblichkeit ist ein sehr wichtiges Element, das darinsteckt», sagt Arlette Dellers. Lesbisch als (Selbst-)Bezeichnung schliesst damit Personen ein, die weiblich sozialisiert sind, in weiblichen Rollen leben oder als weiblich gelesen werden.

Was für Arlette den lesbischen Blick ausmacht, ist nicht nur, wie FLINTA*/queere Personen sich anschauen, sondern auch, wie sie sich gegenseitig unterstützen. Unterstützung, wie Arlette es beschreibt, bedeutet nicht, dass man einander nicht hot und begehrenswert finden kann, aber das Äussere sollte dabei nicht das Einzige sein. Der lesbische Blick ermöglicht es für sie, Handlungen, Skills und Eigenschaften anziehend zu finden, und vervielfacht damit ein Verständnis von Attraktion. 

Arlette Dellers bringt für «Eat me Now!» fünf Tänzer*innen mit unterschiedlichem tänzerischen Hintergrund und unterschiedlichen Körpern zusammen, um die Objektifizierung von lesbischer Sexualität und die Sexualisierung des weiblich gelesenen Körpers zu thematisieren. Copyright: Theodor Diedenhofen

Für ihre choreografische Arbeit an «Eat Me Now!» geht Arlette der Frage nach, wie Symbole, Posen und Bewegungsqualitäten, die als sexy verstanden werden, neu kombiniert werden können, um das Ungewohnte, das Komische daran sichtbar werden zu lassen. «Es scheint sich im Tanz manchmal zu widersprechen, aber für mich steht grundsätzlich nicht der Körper im Zentrum, sondern die Person. Und wenn ich auswähle, mit welchen Tänzer*innen ich arbeite, geht es mir nicht nur darum, wie gut sie tanzen können, sondern vor allem darum, was sie darüber hinaus mit in den Prozess bringen. Also wie sie gelesen werden, welche Realitäten sie erleben und dass sie sich wohlfühlen.» 

Im Gespräch über den Blick wird deutlich, dass sich Arlette viele Gedanken über die Zuschauer*innen und ihren Blick auf das Geschehen während der Aufführung macht. Aus ihren Erfahrungen mit verschiedenen Kontexten wie der Ballroom-Szene oder dem Zirkus kann Arlette auf viele Formen der Beziehungen zwischen Zuschauer*innen und Performenden zurückgreifen. Es sei wichtig, Vermittlungspersonen zu haben, sagt Arlette. In ihrem jetzigen Stück ist zum Beispiel eine Sängerin die Hauptperson, die dem Publikum zu Beginn erklärt, was sie braucht und dass gerne Reaktionen gezeigt werden können. Arlette: «Das Publikum kann das Stück so auf eine Art mitinszenieren.» 

Wer betrachtet wen und wie?

Dass sich Ewa Dziarnowska und Arlette Dellers in ihren Arbeiten mit dem Blick beschäftigen, reiht sich in einen historisch gewachsenen Diskurs über die Fragen, wer wen wie betrachtet und welche Implikationen das mit sich bringt. Viele Diskussionen über den Blick in Film und Theater heute gehen auf den Essay «Visual Pleasure and Narrative Cinema» zurück, den die feministische Filmtheoretikerin Laura Mulvey 1975 veröffentlichte und der seitdem breit im akademischen und künstlerischen Kontext rezipiert wird. Der Text beschreibt anhand klassischer Hollywoodfilme des 20. Jahrhunderts, wie tief verankerte Gesellschaftsstrukturen die Produktion und Rezeption von Filmen beeinflussen, und findet eine eingängige Bezeichnung für diese bewussten und unbewussten Prozesse: den Male Gaze, also den männlichen Blick

In Mulveys psychoanalytisch geprägter Kritik verlangt der Male Gaze von den Zuschauer*innen – aber auch von Personen hinter der Kamera und den Darsteller*innen selbst –, die weiblichen Figuren im Film als Objekte wahrzunehmen oder selbst durch Identifikation mit der Figur zum Objekt zu werden, um so vorherrschende sexistische und patriarchale Strukturen zu reproduzieren. 

Arlette Dellers geht der Frage nach, wie Symbole, Posen und Bewegungsqualitäten, die als sexy verstanden werden, neu kombiniert werden können. Copyright: Theodor Diedenhofen

Bis heute wird der Text viel zitiert und dient als Basis, um über Vergeschlechtlichung und Wahrnehmungsweisen zu sprechen. Gleichzeitig hat sich seit der Veröffentlichung eine Vielzahl an weiteren Blicken gebildet, die auf Leerstellen in Mulveys Kritik abzielen und die Konzeption des Blicks multiperspektivischer ausformulieren: der Oppositional Gaze von bell hooks, der die Perspektive Schwarzer Frauen in den Blick einschreibt, der Filmemacher Joey Soloway, der mit dem Female Gaze eine Alternative entwirft, die die Handlungsmacht des Körpers gegenüber der Technik während der Filmproduktion in den Fokus rückt und das vermeintliche Objekt vor der Kamera zurückblicken lässt, sowie der Queer Gaze, der die starre binäre Zuschreibung von «männlich» und «weiblich» hinter sich lässt und dominante heterosexuelle Erzählweisen befragt. So unterschiedlich die Positionen in ihrer Radikalität und Kritik sein mögen, sie alle streben eine Reflexion eines dominanten Blickregimes und eine Sichtbarmachung marginalisierter Positionen an. 

Diese Überlegungen und die daraus gezogenen Konsequenzen sind über ihren Ursprung in der feministischen Filmtheorie hinaus auch für die darstellenden Künste relevant. Unter anderen Vorzeichen als der Film ist das Theater historisch ebenfalls eine Institution, die das Visuelle als Wahrnehmungsweise priorisiert und den Blick über einen langen Zeitraum zum primären Zugang einer Aufführung macht. Für Künstler*innen eröffnen sich darin mehrere Handlungsfelder: Es gibt die Möglichkeit, die Dominanz des Visuellen zu hinterfragen und Widerstand gegen die dadurch entstehenden Ausschlüsse von beispielsweise Personen mit Sehbeeinträchtigung und nicht-visuellen ästhetischen Erfahrungen zu formulieren. Beispielsweise fokussiert das Deep-Listening-Theater «Unter uns» von Dimitri de Perrot, das im November an der Gessnerallee gezeigt wurde, auf das Hören als Aufführungserfahrung. Und im Kontext von Aesthetics of Access arbeiten Künstler*innen wie die Gruppe Quiplash, die am 13. und 14. Dezember an der Gessnerallee zu Gast ist, an ästhetischen Tools wie der integrierten s, die die auditive Beschreibung der visuellen Ebene wie Kostüme, Requisiten und Bewegungen im Raum für das gesamte Publikum hörbar macht. 

Die Blicke in «This resting, patience» zwischen Ewa Dziarnowska und Leah Marojević (Bild) laden zu einem assoziativen Spiel ein, das die Zuschauer*innen auf ihre eigenen Referenzen und Assoziationen zurückwirft. Copyright: Ewa Dziarnowska

Das eigene Begehren schreibt den Blick nicht fest

Die Zugänge und Arbeitsweisen der beiden Choreograf*innen Ewa Dziarnowska und Arlette Dellers erkennen den Blick an und loten das sich daraus ergebende Handlungsfeld aus. Arlette bezieht sich explizit auf den Lesbian Gaze und definiert ihn für sich und ihr Team so, dass Personen über ihr Äusseres hinaus in ihrer Ganzheit gesehen werden. Der Blick bei Ewa ist fluid in Bezug auf Gender. Er zoomt nah an den Körper ran und ist in seiner Offenheit ein grundlegender Bestandteil ihrer Art und Weise, zu performen und das Publikum einzuladen.

«Leah ist immer die Person im Raum, mit der ich am wenigsten flirte. Wir sind ein Power-Couple, wir flirten nicht einmal mehr.»

Ewa Dziarnowska

Im Gespräch über den Lesbian Gaze lacht Ewa, als sie sagt, dass ihr einige Personen nach den Aufführungen schon gesagt hätten, dass das Stück eine sehr lesbische Energie habe. Sie selbst findet, es könnte auch ein Gay Gaze sein, denn so viel an dieser Arbeit sei unmittelbar von ihrem privaten Kontext beeinflusst. Von der Zeit, die sie mit ihren Freund*innen, viele davon schwule Männer, verbringt, tanzend und in Clubs, beeinflusst von der bewussten Auseinandersetzung mit Körpern, Sexualität und Tanz. Die eigene Positionierung und das eigene Begehren schreiben den Blick nicht fest, sondern belassen ihn fragil und fluid. Die Blicke in «This resting, patience» zwischen Leah und Ewa laden zu einem assoziativen Spiel ein, das die Zuschauer*innen auf ihre eigenen Referenzen und Assoziationen zurückwirft. Die beiden halten und unterstützen sich, während sie sich exponieren. Ihre Blicke sagen sich: «Du machst das gut, ich liebe es», niemand sonst muss das tun. «Leah ist immer die Person im Raum, mit der ich am wenigsten flirte. Wir sind ein Power-Couple, wir flirten nicht einmal mehr. Es ist eher so, dass wir uns gegenseitig beobachten», sagt Ewa.

Fluid ist auch der Blick, den die beiden als beständiges, aufregendes Angebot ans Publikum richten. Wenn dieser auf die Zuschauer*innen trifft, interessiert sich Ewa nicht für Zuschreibungen. Sie wehrt sich dagegen, Personen aufgrund leicht zu lesender Identitätsmarker als Verkörperungen des Anderen zu adressieren: «Ich erlebe es häufig während Performances, dass zum Beispiel ältere Männer im Publikum ausgestellt und vor allen blossgestellt werden, aber ich empfinde keinerlei Befriedigung darin. Schliesslich weiss man nicht, wer diese Person ist, warum sie hier ist, was ihre sexuelle Orientierung und ihre Geschichte ist. In dieser Projektion liegt Gewalt.»

Ewa Dziarnowska und Leah Marojević halten und untersützen sich, während sie sich exponieren. Copyright: Ewa Dziarnowska

In dieser Offenheit ist Ewa gleichzeitig verwundert darüber, dass die Zuschauer*innen manchmal zu vergessen scheinen, dass sie und Leah während «This resting, patience» alle Vorgänge und die Stimmungen im Raum bewusst wahrnehmen und die Reaktionen der Zuschauer*innen einen beständigen Fluss an Informationen bilden. Sich diesem Fluss nicht zu verschliessen, hat Ewa über mehrere Jahre in Inszenierungen in Museums- und Ausstellungsräumen perfektioniert. Sie versteht ihre Performance nicht als einen Akt, sich zu distanzieren, sondern sich mit der Situation, dem Hier und Jetzt der Aufführung, auseinanderzusetzen. 

Die Unabgeschlossenheit, die Ewa in den Blicken und der Art zu performen beschreibt, ist gleichzeitig ihre Strategie gegen eine ungewollte Objektifizierung als weiblich gelesene Tänzerin: Sie verweigert sich der Annahme, dass die Blicke der Zuschauer*innen sie reduzieren, und wenn sie und Leah sich danach fühlen, steht ihnen die freiwillige (Selbst-)Objektifizierung offen. Bisher habe es sich während der Aufführungen zu «This resting, patience» sicher angefühlt, allen Zuschauer*innen einen Vertrauensvorschuss zu geben und den Blick als eine unmittelbare Erfahrung einzuladen: «Ich zeige dir meine Arschritze, du kannst sie gerne anschauen, aber ich werde dir dabei zuschauen und dann sehen wir gemeinsam, was wir daraus machen.»

Veranstaltung

«This resting, patience»
Ewa Dziarnowska

Sa. 23.11. 18:00–21:00

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