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Aesthetics of Access – künstlerische Barrierefreiheit erforschen

Kunst, die behinderten und Tauben/gehörlosen Besucher*innen ein ebenso ästhetisches Erlebnis anbietet wie dem nichtbehinderten, hörenden Publikum.

Noa Winter, 11. September 2024

Ein Schwerpunkt der kuratorischen und dramaturgischen Arbeit der Gessnerallee für die kommenden vier Jahre sind Aesthetics of Access («Ästhetiken der Barrierefreiheit»). Der Begriff geht zurück auf die englische Graeae Theatre Company und bezeichnet verschiedene künstlerische Praktiken aus behinderter und Tauber/gehörloser Perspektiven, die Barrierefreiheit als Teil des kreativen Prozesses denken. Dabei sind *Barrierefreiheitsmittel wie zum Beispiel Übertitel von Anfang an Teil der Konzeption und der Proben und werden mit dem gleichen künstlerischen Anspruch erarbeitet wie das Bühnenbild oder die Choreografie. Ziel ist es, behinderten und Tauben/gehörlosen Besucher*innen ein ebenso ästhetisches Theatererlebnis anbieten zu können wie dem nichtbehinderten, hörenden Publikum.

Aesthetics of Access sind eine ansprechende Alternative zu nachträglichen Barrierefreiheitsangeboten, die erst erarbeitet werden, wenn eine Produktion schon (fast) fertig ist. In diesem Fall haben die Barrierefreiheitsmittel keinen Einfluss auf die Ästhetik und orientieren sich häufig an einer Checkliste, die für jedes Stück gleich ist. Künstlerische Barrierefreiheit hingegen ist genauso vielfältig wie die Produktionen.

Beispiele für Aesthetics of Access sind:

  • Integrierte Audiodeskription (AD): Die auditive Beschreibung der visuellen Ebene wie Kostüme, Requisiten und Bewegungen wird nicht über nur an blinde und sehbehinderte Besucher*innen ausgegebene Kopfhörer gesendet, sondern ist im Raum für das gesamte Publikum hörbar. Statt dass die AD sich dem Rhythmus der Inszenierung anpassen muss, bestimmt sie deren Dramaturgie mit. Oft werden weitere Elemente blinder Dramaturgie eingesetzt, etwa taktile Gegenstände oder geräuscherzeugende Kostüme.

  • Relaxed Performance (RP): Die Produktion findet einen künstlerischen Umgang damit, dass bestimmte theaterspezifische Konventionen wie zum Beispiel langes Stillsitzen auf engem Raum, unangekündigte starke sensorische Reize oder Interaktion insbesondere für neurodivergente Menschen eine Barriere darstellen können. Es werden ausführliche Informationen über den Ablauf der Veranstaltung und die eingesetzten ästhetischen Mittel angeboten, das Verlassen des Raums ist möglich. Eine einladende, ästhetisch gestaltete Ankündigung, dass es sich um eine RP handelt und was dies bedeutet, ist Teil der Aufführung.

  • Laut- und Gebärdensprache(n): Hörende und Taube/gehörlose Performer*innen nutzen gleichberechtigt Gebärden- und Lautsprache(n). Übersetzungs- und Verständigungsprozesse sind Teil des Bühnengeschehens und funktionieren ohne Dolmetscher*innen. Es wird eine eigene Ästhetik der Sprache, der Kommunikation und des (Nicht-)Verstehens für hörendes und Taubes/gehörloses Publikum entwickelt.

Als behinderte*r Dramaturg*in fühle ich mich den Aesthetics of Access stark verbunden. Denn die Entwicklung der künstlerischen Einsatzmöglichkeiten von Mitteln der Barrierefreiheit ist ein wichtiger Bestandteil der Behinderten- und Tauben- beziehungsweise Gehörlosenkultur. Daher sind wir als behinderte und Taube/gehörlose Künstler*innen und Access-Dramaturg*innen die Expert*innen für deren Umsetzung.

Aesthetics of Access können also nicht in ausschliesslich nichtbehinderten, hörenden Teams, sondern nur unter unserer Leitung oder in enger künstlerischer Zusammenarbeit mit uns entstehen. Wer also an seinem Haus mehr Aesthetics of Access programmieren möchte, muss verstärkt mit uns zusammenarbeiten. Dies fördert nicht nur die lange vernachlässigte künstlerische Entwicklung behinderter und Tauber/gehörloser Menschen, sondern auch die Entstehung neuer Ästhetiken, die für behindertes wie nichtbehindertes, Taubes/gehörloses wie hörendes Publikum gleichermassen spannende Erfahrungen bereithalten. 

Aesthetics of Access in der ersten Spielzeit

Bereits zu Beginn der Spielzeit 2024/25 werden wir mehrere Gelegenheiten haben, Aesthetics of Access zu erfahren, an ihnen zu arbeiten und über sie im Austausch zu sein: 

  • Zur Eröffnung haben wir am 27. und 28. September um jeweils 19.30 Uhr die schottische Produktion «The Making of Pinocchio» von Cade & MacAskill zu Gast. Sie ist als Relaxed Performance konzipiert und wird mit Übertiteln sowie einer Audiodeskription angeboten. 

  • Die Zürcher Gruppe Criptonite veranstaltet das «Crip Lab», in dem behinderte und Taube/gehörlose Künstler*innen gemeinsam Arbeitspraktiken erproben und verfeinern. Am 22. September um 16 Uhr lädt das Labor alle Interessierten zu einem Sharing ein.

  • In Zusammenarbeit mit dem Schweizer Performancepreis, der am 20. Oktober zwischen 11 Uhr und 17 Uhr in der Gessnerallee stattfindet, werden wir im «Labor für Relaxed Performance» eine Gruppe neurodivergenter Kulturakteur*innen weiterbilden. Ziel ist es, ein Netzwerk aus Expert*innen aufzubauen, die langfristig Produktionen und Kulturinstitutionen bei der künstlerischen Umsetzung von relaxten Veranstaltungen begleiten können.

  • Am 13. und 14. Dezember kommt der schillernde Kabarettabend «Unsightly Drag and Friends» von Quiplash in die Gessnerallee. Der gesamte Abend nutzt vielfältige Formen kreativer Audiodeskription und wurde ebenfalls als Relaxed Performance konzipiert.

Und das ist erst der Anfang: auf die kommenden Jahre und die gemeinsame Reise mit Künstler*innen und Publikum in die spannenden Welten der künstlerischen Barrierefreiheit.

* Die Verwendung des Begriffs «Barrierefreiheitsmittel» anstelle von «Zugangsmittel» zielt auf die Freiheit, dass behinderte Personen sich unabhängig von anderen bewegen und orientieren können – im Gegensatz zu einem blossen Zugang.

Zur Autor*in

Noa Winter (keine Pronomen) ist Kurator*in, Dramaturg*in und Kulturberater*in und ab August 2024 als Dramaturg*in an der Gessnerallee tätig. Von 2020 bis 2024 ko-leitete Winter das Netzwerkprojekt Making a Difference, das die selbstbestimmte Arbeit behinderter, Tauber und chronisch kranker Künstler*innen in der Berliner Tanzszene fördert. Schwerpunkte von Winters dramaturgischer, kuratorischer und Empowerment-Arbeit sind anti-ableistische Praktiken und Aesthetics of Access, insbesondere die künstlerische Entwicklung von Relaxed Performances. 

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