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Ein Gedanke zu Theater

Schenk mir nach, Schätzchen

In diesem Format schreiben verschiedene Autor*innen über ihre «Gedanken zu Theater». Ein Beitrag von der Dramatikerin und Literaturkritikerin Laura de Weck über die Wahrheiten hinter Theaterfiguren.

Laura de Weck, 6. Oktober 2025

Vor ein paar Jahren schrieb ich gemeinsam mit einer Schulklasse ein Theaterstück. Alle Schüler*innen sollten eine eigene Figur dafür erfinden. Als wir diese auf der Wandtafel skizzierten, waren es vor allem schwerreiche Supermodels, nobelpreistragende Fussballer oder rekordbrechende Popstars. Ich kam ins Grübeln. Was sollen wir mit diesen Figuren? Da ist kein Schmerz, kein Konflikt, kein Scheitern, keine Scham. Ich bat sie also, nochmals neu zu beginnen.

Als die Jugendlichen nach und nach erkannten, dass auf der Bühne menschliche Schwächen zu Stärken werden, dass alles, wofür sie sich sonst schämen, zum Motor eines künstlerischen Werks werden kann, sprudelte es aus ihnen heraus. Insbesondere Sucht war Thema: Alkoholsucht, Magersucht, Gamesucht.

Ein Mädchen beschrieb eine Szene mit einer alleinerziehenden Mutter, die sich tief in mein Gedächtnis eingegraben hat und mich bis heute erschüttert: Die Mutter schminkt sich an einem Schminktisch die Augen, dann weint sie, die Schminke verläuft, also bittet sie entnervt ihre Tochter um Wein: Schenk mir nach, Schätzchen. Dann geht es wieder von vorne los: Mutter schminkt sich, weint, Schminke verschmiert, schenk mir nach, Schätzchen ... Eine Endlosschleife, ein hundertfaches Schminken, ein endloses Weinen, ein unaufhörliches Trinken.

Da begriff ich, dass diese Schülerin mir hier von einer Wahrheit erzählte. Eine Wahrheit, von der sie nur den Mut hatte, zu berichten, weil diese Wahrheit sich hinter einer verkleideten Theaterfigur versteckt. 

Das ist der Zauber des Theaters. Dass all die Maskerade, all das Bühnenbild und die Abstraktion in Wahrheit nur Mittel sind, die Gesellschaft und den Menschen nackt zu machen. Manchmal reicht auch nur der Schritt auf die Bühne. Bis heute ist das Theater für mich ein Ort, an dem alles beschämt Geheimgehaltene, Versteckte, Sexuelle, Tabuisierte endlich offen ausgespielt werden kann.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Winterausgabe 2024 der Zeitung der Gessnerallee.

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