Im Juni 2025 erhalte ich die Anfrage, einen «Gedanken zu Theater» zu formulieren, und damit fangen die Probleme an, denn Gedanken habe ich meistens zu viele und zum Theater sowieso. Ich google «wie beginnen zitate», das hilft leider gar nicht, und dann google ich Zitate über DAS THEATER, und das hilft noch viel weniger. Irgendwas mit Bühne und Kunst und Leben, und ich denke an das goldene Buch, das seit drei Jahren ungelesen in meinem Bücherregal steht: «Why Theatre?» von Milo Raus NTGent, Stimmen von Theaterschaffenden, gesammelt während des ersten Covid-Lockdowns. Why not jetzt lesen, denke ich, mit Miet Warlops Antwort gesprochen, schlage das Buch auf, sehe einen Hintern, der gegen eine Wand lehnt, und darüber in krakeliger Schrift:
TO SEE WHAT LIVES
INSIGHT
HUMANITY
MEASURE D
BY DESIRE,
und das finde ich witzig, aber hilft mir mit den tausend Gedanken auch nicht weiter.
Ich könnte mit meiner Befürchtung beginnen, dass ich gar nichts RELEVANTES zu sagen habe, dass nichts der Drastik, der Dringlichkeit und den Verwerfungen unserer Zeit gerecht wird, gerecht werden kann. Und dass es ein Klischee ist, das zu schreiben, aber deswegen nicht weniger true.
Ich könnte damit beginnen, dass ich Angst habe. Vor der Raserei um mich.
Ich könnte damit beginnen, dass dieser Text eigentlich ein Gespräch sein sollte.
Oder dass ich fürchte, eine politische Position formulieren zu müssen, für die ich noch zu jung bin oder schon zu alt oder bereits zu desillusioniert. Aber diese Befürchtung hängt wohl damit zusammen, dass ich nächstes Jahr 30 werde; ich dachte, ich bin over sowas, aber ich bin es leider nicht. Von diesen 30 Lebensjahren habe ich 25 irgendwie rund ums Theater verbracht, ich war eine Fledermaus zwischen Wäscheklammern, war 9-jährig*e Claire Zachanassian mit Grauhaarperücke, habe Ricola in der Kantine gelutscht und bin beim Schlussapplaus hingefallen.
Ich habe schon mittags Campari Orange getrunken und Kostüme genäht. Ich habe geheult, geschrien und geflucht, ich habe E-Mails geschrieben, herrje, so viele E-Mails, und mich vor dem Opernhaus Zürich mit Wasser begossen, Hildegard Knef singend, um für mehr Raum für junges Theater zu demonstrieren. Ich war Assistenz, Produktionsleitung, Spieler*in, Student*in, Zuschauer*in, Kritiker*in, Fan, hater, lover, friend, Neider*in, Gönner*in, im Vorstand, im OK, im Team, im Saal, im Off.
Ich habe nächtelang kaum geschlafen und dann tagsüber irgendwo, ich habe Jobs gekündigt, bevor ich sie antreten konnte; ich habe Jobs angetreten, obwohl ich sie hätte kündigen sollen. Ich habe Papier gebündelt und Vereine gegründet, ich habe Dossiers verfasst und Budgets angepasst. Ich habe Fragen gestellt und ich bin ins Fettnäpfchen getreten, habe Hierarchien ignoriert, mal mit Absicht und mal nicht. Ich habe gestaunt und an meinen Fingernägeln gekaut. Ich konnte nicht stillsitzen und bin trotzdem geblieben.
Ich bin über meine Grenzen gegangen, bin ausgebrannt und rausgefallen, aufgefallen, war zu laut und wollte zu viel, und ich will immer noch zu viel, ich will jeden einzelnen Moment auskosten, ich will ein Theater für die Versehrten, einen Raum, der die Schreie hört.
Ich habe Menschen in die Augen geschaut, die nicht damit gerechnet haben. Ich habe Dinge gesehen, mit denen ich nicht gerechnet habe.
Ich habe gelernt, gerade zu stehen.
Ich habe gelernt, dass ich nicht alles verstehen muss.
Ich habe gespürt, was alles fehlt. Wer alles fehlt.
Ich habe im Theater Freund*innen gefunden und behalten, meine Welt auf den Kopf gestellt und mich verliebt, ach, jedes Mal, vielleicht sogar zum allerersten Mal, hinter der roten Türe zum Theatersaal. Und ich habe begonnen zu schreiben, und dann gleich aufs Ganze, eine Maturaarbeit mit dem Titel: «Menschsein». Rundumschlag, grosse Gefühle, grosse Ängste, die Möglichkeit, die ganze Welt zu meinen. Weniger ging für mein 17-jähriges Ich nicht, und ich bewundere das, ich wünsche mir das, für mich, für uns, für die Gedanken, die Gespräche zu Theater.