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Analyse

Schluss mit Tokenismus

Barrierefreie Formate wie Relaxed Performances haben Theaterhäuser geöffnet und Zugänge geschaffen. Doch echte Veränderung entsteht erst, wenn Menschen mit Behinderungen nicht nur im Zuschauer*innenraum sitzen, sondern selbst Entscheidungen treffen – über Programme, Ästhetiken und Strukturen.

Marah Rikli, 17. Dezember 2025

Es ist nicht so still im Raum wie sonst zu Beginn einer Vorstellung. Das Publikum bewegt sich, jemand spricht mit einem Kommunikationsgerät, jemand anderes gebärdet mit seinem Gegenüber. Das Publikum richtet sich auf Matratzen, Theaterstühlen und auf grossen Kissen ein. Das warmweisse Licht ist noch nicht gedimmt, als eine Person am Mikrofon auf der Bühne erklärt, wie die nächsten zwei Stunden verlaufen: Der Saal darf jederzeit verlassen werden. Es gibt Rückzugsorte im Haus, sogenannte Ruheräume, sollte eine Pause zwischendurch wichtig werden. Und die Person weist darauf hin, dass im Stück, das nun gleich beginnt, überraschende, rauschende Geräusche vorkommen sowie rotes Licht. Wir befinden uns in einer «Relaxed Performance».

Eine Relaxed Performance (kurz: RP) ist ein barrierearmes Veranstaltungsformat, das Menschen willkommen heissen möchte, für die übliche Konventionen von Performance-Veranstaltungen eine Barriere darstellen und die dadurch oft ausgeschlossen sind. Dazu gehören zum Beispiel langes Stillsitzen auf engem Raum, unangekündigte starke sensorische Reize oder Interaktionen. Noa Winter, Dramaturg*in an der Gessnerallee, lebt selbst mit chronischen Erkrankungen und Behinderungen und sagt dazu: «Dieses Format wurde und wird von neurodivergenten Menschen entscheidend mitgestaltet.» Womit Winter ein wichtiges Vorgehen sichtbar macht: Selbstvertreter*innen werden nicht nur im Publikum erwartet und beachtet, sondern arbeiten in der Konzeption mit.

«Eine Person sollte niemals eine ganze Community vertreten müssen.»

Inga Laas, Projektleiterin von disframe

Wer schreibt die Geschichten?

Relaxed Performances, Gebärdensprach- oder Schriftdolmetschung, Signaletik für Menschen mit Sehbehinderungen sowie der Abbau von Barrieren für Menschen, die zum Beispiel einen Rollstuhl nutzen – all das waren und sind noch immer sehr wichtige Einstiege, um Theaterhäuser zugänglicher zu machen. Aber Zugänglichkeit im Zuschauer*innenraum beantwortet noch nicht die Frage danach, wer die Geschichten schreibt, wer über Ästhetik entscheidet und wer ein Theaterhaus leitet.

Die meisten Stücke erzählen nämlich noch immer nicht behinderte Menschen, und Entscheidungen über Programme finden meist ohne Beteiligung von Selbstvertreter*innen statt. Dabei sollte es nicht einmal eine Rolle spielen, ob das Stück sich dem Thema Behinderungen oder Krankheiten widmet, damit Menschen mit Behinderungen einbezogen sind.

Damit wirkliche Teilhabe und Diversität entstehen, braucht es eine Übernahme von Führungs- und Entscheidungspositionen durch Menschen mit Behinderungen, zum Beispiel in Kunst und Kultur. Es geht dabei um mehr als Repräsentation auf der Bühne, und es geht um Verantwortung und Gestaltungshoheit. Oder anders gesagt: «Disabled Leadership».

Während Inklusion meist bedeutet, bestehende Strukturen zu öffnen und Zugänge zu schaffen, zum Beispiel durch Barrierefreiheit oder Übersetzungen, bleibt dieser Ansatz oft bei der Anpassung bestehender Systeme stehen. Menschen werden in Räume hineingelassen, die aber von anderen definiert wurden. «Disabled Leadership» geht darüber hinaus: Es beschreibt den Schritt hin zu echter Teilhabe, in der Menschen mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen nicht nur eingeladen werden, sondern selbst gestalten, prägen und entscheiden. Kultur entsteht so nicht länger von aussen «für», sondern von innen «mit» der Perspektive und mit der Expertise von Menschen mit Behinderungen. Dadurch verändern sich die Strukturen selbst und es entsteht eine Kulturpraxis. «Wir sind Expert*innen unserer eigenen Erfahrung», erklärt Noa Winter, «Aesthetics of Access (siehe Box) oder künstlerische Barrierefreiheit können nicht von rein nicht behinderten Teams entwickelt werden. Sie entstehen nur, wenn wir selbst an der Spitze stehen oder eng in Entscheidungen eingebunden sind.»

«Welche Körper sind auf der Bühne? Welche Sinne werden angesprochen? Wie sitzt das Publikum? Wir haben angefangen, diese Normen zu brechen, indem wir langsamer arbeiten, Stille zulassen oder Audiodeskription kreativ einsetzen.»

Nina Mühlemann, Künstler*in und Theater- und Disabilitywissenschaftler*in

Lange Zeit waren Menschen mit Behinderungen im Theater vor allem Objekt der Darstellung. Rollen wurden von nicht behinderten Schauspieler*innen gespielt. Narrative folgten gängigen Klischees: das tragische Opfer, die bewundernswerte Überwinder*in, die Randfigur, die Held*in. Nur selten bestimmten Künstler*innen mit Behinderungen selbst, wie sie dargestellt werden wollen. Auch auf der Ebene der Institutionen waren sie kaum sichtbar; weder in Leitungen noch in Dramaturgie oder Programmplanung.

Dieser Umgang führte häufig zu Tokenismus: Einzelne Personen wurden als Symbol für Vielfalt eingeladen, ohne echte Mitsprache oder nachhaltige Veränderungen. «Eine Person sollte niemals eine ganze Community vertreten müssen», betont Inga Laas, Leiterin von disframe, dem neuen Förder- und Netzwerkprojekt des Migros-Kulturprozents für inklusive Kulturpraxis. Im Zentrum steht: «Disability and Leadership». «Menschen mit Behinderungen, chronischen Erkrankungen oder Neurodivergenz sollen nicht nur als Teilnehmende, sondern in Leitungs- und Entscheidungspositionen wirksam sein», so Laas. Das Förderprojekt setzt dabei auf die Verbindung von künstlerischer und kultureller Fachkompetenz mit Lebensrealität und versteht unterschiedliche Perspektiven als Chance für co-kreative Arbeitsansätze.

Laas, die sich als «Deaf» identifiziert, sagt: «Menschen mit Behinderungen sind nicht automatisch Expert*innen für Diversity-Themen. Es geht darum, ihre Fachkompetenz mit ihrer Lebensrealität zu verbinden und sie ernsthaft in Entscheidungspositionen zu bringen.» In ihrer Signatur zeigt Laas gleich ein Beispiel, wie Kommunikation von Anfang an zugänglich und personenzentriert gedacht wird: «Bitte lassen Sie mich wissen, welche Pronomen Sie verwenden, und teilen Sie mir eventuelle Zugangsanforderungen für unsere Kommunikation mit. Danke.»

Langsam beginnt sich der Diskurs um Behinderung zu wandeln. Förderprogramme wie das britische Unlimited, Kollektive wie Criptonite in Zürich oder Netzwerke wie «Making a Difference» in Berlin öffnen neue Räume. In all diesen Formaten geht es nicht um Anpassung, sondern um Selbstbestimmung. Künstler*innen entwickeln eigene Ästhetiken, definieren die Bedingungen ihrer Arbeit und zeigen so, dass Barrierefreiheit nicht Beschränkung bedeutet, sondern künstlerisches Potenzial. «Im Theater geht es immer um Normen», sagt Nina Mühlemann, Mitgründer*in von Criptonite. Mühlemann nutzt einen Rollstuhl und ist schon seit Jahrzehnten aktivistisch und kulturell für ihr Engagement in der Behindertenbewegung der Schweiz bekannt. «Welche Körper sind auf der Bühne? Welche Sinne werden angesprochen? Wie sitzt das Publikum? Wir haben angefangen, diese Normen zu brechen, indem wir langsamer arbeiten, Stille zulassen oder Audiodeskription kreativ einsetzen. Das eröffnet völlig neue ästhetische Erfahrungen», sagt sie.

«Es reicht nicht, das Publikum für eine Vorstellung einzuladen und danach wieder zur nicht behinderten Tagesordnung überzugehen.»

Noa Winter, Dramaturg*in

Doch wie lassen sich auch die Strukturen nachhaltig verändern? «Förderinstitutionen spielen eine Schlüsselrolle und müssen ebenfalls zugänglicher werden», so die Kulturschaffende. «Erstens braucht es barrierefreie Kommunikation», sagt auch Inga Laas. «Zweitens braucht es barrierefreie Antragsverfahren, bei denen Access-Kosten selbstverständlich übernommen werden. Und drittens müssen marginalisierte Perspektiven konsequent einbezogen werden. Und zwar nicht als Symbol, sondern als Expertise.»

Neben barrierefreien Strukturen wird auch über Quoten diskutiert. Manche fordern verbindliche Vorgaben für den Anteil behinderter Personen in Teams und Leitungen. Andere setzen auf Freiwilligkeit und Sensibilisierung. Klar ist: Ohne konkrete Massnahmen droht «Disabled Leadership» ein Schlagwort zu bleiben.

Noa Winter betont ausserdem die Verantwortung der Häuser selbst: «Es reicht nicht, das Publikum für eine Vorstellung einzuladen und danach wieder zur nicht behinderten Tagesordnung überzugehen. Wenn Menschen mit Behinderungen wirklich Teil der Teams sind, verändert das die gesamte Institution: von den Arbeitszeiten über die Pausenstruktur bis hin zu den Entscheidungswegen.» Und das verändert auch die Gesellschaft, so Nina Mühlemann: «Denn wenn Menschen mit Behinderungen Vorbilder bekommen, werden sie sich selbst mehr in solchen Positionen vorstellen können.»

Blick in eine mögliche, gute Zukunft

Doch die Herausforderungen sind nicht zu unterschätzen. Oft fehlen Ressourcen, manchmal auch das Wissen oder die Bereitschaft, Strukturen zu verändern. Ableismus, die Diskriminierung aufgrund von Behinderungen, zeigt sich nämlich nicht nur in Vorurteilen, sondern auch in unflexiblen Arbeitsmodellen, baulichen Barrieren oder fehlender Assistenz.

Hinzu kommt die Gefahr, dass von den wenigen sichtbaren Vertreter*innen erwartet wird, dass sie Zugänglichkeitsarbeit machen und sich mit Fragen der Partizipation auseinandersetzen, obwohl dies nicht ihr Auftrag ist.

Inga Laas hat das oft erlebt: «Menschen mit Behinderungen werden oft auch unbeabsichtigt mit ‹Crip-Hustle› belastet.» Was bedeutet, dass Selbstvertreter*innen auch in Häusern, die für ihre Diversität bekannt sind, unter Umständen gegen Vorurteile und Ungleichheit kämpfen müssen, was sehr erschöpfend ist. «Dagegen müssen Institutionen konsequent vorgehen», so Laas.

Wie also könnte eine Zukunft aussehen, in der Menschen mit Behinderungen in Entscheidungspositionen normalisiert sind? Vielleicht so: Theater und Tanz wären nicht länger Orte, an denen Zugänge mühsam erkämpft werden müssen, sondern Räume, die von Anfang an für verschiedene Körper, Sinne und Lebensrealitäten gedacht sind. Institutionen würden sich nicht nur für ein vielfältiges Publikum einsetzen, sondern auch ihre Teams divers gestalten. Förderprogramme würden nicht mehr fragen, ob Access notwendig ist, sondern selbstverständlich damit planen. Arbeitsweisen würden sich verändern: mehr Pausen, mehr Flexibilität, Assistenzen, weniger fixierte Arbeits- und flexiblere und diversere Spielzeiten. Und zwar nicht als Sonderwunsch, sondern als Qualitätsaspekt der Häuser.

Aesthetics of Access

Barrierefreiheit wird nicht als technisches Hilfsmittel am Ende einer Produktion hinzugefügt, sondern von Beginn an in den künstlerischen Prozess eingebettet. Mittel wie Übertitel, Audiodeskription oder Gebärdensprache werden nicht nur funktional eingesetzt, sondern als ästhetische Werkzeuge verstanden, die Dramaturgie, Rhythmus und Ausdruck einer Aufführung mitgestalten. Der Ansatz, geprägt von der britischen Graeae Theatre Company, zeigt: Barrierefreiheit kann selbst Kunst sein und eröffnet neue Formen des Theaters für alle. Mehr Infos finden Sie in diesem Beitrag.

Criptonite

Ein Beispiel für diese Utopie lebt das Zürcher Kollektiv Criptonite, das 2020 von Nina Mühlemann und Edwin Ramirez gegründet wurde. Es versteht sich als Plattform für behinderte und queere Künstler*innen und lotet neue Formen von Zusammenarbeit, Interdependenz und künstlerischer Freiheit aus. In ihren Performances bricht Criptonite mit Normen von Körper, Sprache und Zeit. Und zeigt, dass Barrierefreiheit nicht Einschränkung bedeutet, sondern die Basis für künstlerische Innovation sein kann. Ein Theater also, das Vielfalt als Ressource begreift.

disframe

disframe ist das Förder- und Netzwerkprojekt des Migros-Kulturprozents für inklusive Kulturpraxis. disframe fördert, präsentiert und verbindet gemeinsam mit verschiedenen Partner*innen Kulturschaffende mit Behinderungen und/oder chronischen Erkrankungen. Mit dem jährlichen Call «disability & leadership» bietet disframe finanzielle Unterstützung für die selbstbestimmte Arbeit von Tauben Kulturschaffenden sowie Kulturschaffenden mit Behinderungen und/oder chronischen Erkrankungen. disframe verwendet für den Call den Titel «disability & leadership», da disframe die Kultur einer diversen und inklusiven Gesellschaft betonen möchte und der Begriff «Disabled Leadership» auch anders verstanden werden kann.

Nina Mühlemann lebt in Zürich und ist Künstler*in und Theater- und Disabilitywissenschaftler*in. Aktuell arbeitet Nina als Postdoctoral Researcher im Forschungsprojekt «Ästhetiken des Im-Mobilen» an der Hochschule der Künste Bern und forscht zu Tanz-und Theaterpraktiken von behinderten Künstler*innen. 2020 gründete Nina zusammen mit Edwin Ramirez Criptonite, ein crip-queeres Theaterprojekt, das die Arbeit von behinderten Künstler*innen und Aesthetics of Access zentriert. Aktuell erhält Criptonite die vierjährige Konzeptförderung der Stadt Zürich.

Noa Winter ist Dramaturg*in an der Gessnerallee. Von 2020 bis 2024 co-leitete Winter das Netzwerkprojekt «Making a Difference», das die selbstbestimmte Arbeit behinderter, Tauber und chronisch kranker Künstler*innen in der Berliner Tanzszene fördert.

Inga Laas ist Projektleiterin von disframe, dem Förder- und Netzwerkprojekt des Migros-Kulturprozents für inklusive Kulturpraxis. Ihre Arbeit für barrierefreie Kultur hat beim Zürcher Theaterspektakel gestartet, sich an der Gessnerallee vertieft, um schliesslich mit disframe auf möglichst vielen Ebenen anzusetzen.

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