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Porträt

Die Normen über den Haufen werfen

Die Choreografin, Tänzerin und Aktivistin Anna Chiedza Spörri ist im März mit «PERSPECTIVES» an der Gessnerallee zu Gast. Im Stück zeigt sie auf, wie es sich anfühlt, wenn man jeden Tag aufs Neue rassistischen Mikroaggressionen ausgesetzt ist.

Rahel Bains, 12. März 2025

Die visionäre Kunst der Tänzerin, Choreografin und Aktivistin Anna Chiedza Spörri ist geprägt und inspiriert von gelebten Erfahrungen und der Umgebung, in der sie sich bewegt. Copyright: Laura Gauch

Anna Chiedza Spörri erzählte schon immer Geschichten durch Tanz. An Streetstyle/Hip-Hop-Wettkämpfen, an denen sie früher mit ihren Tanzcrews teilnahm, hatten sie jeweils nur drei Minuten Zeit, um das Publikum von sich zu überzeugen. «Am erfolgreichsten waren die Gruppen, die dafür populäre Lieder und Themen aussuchten, die alle kannten», erinnert sich die Tänzerin und Choreografin aus Bern. Sie trat aber mit einer Show zu einem für diesen Kontext unerwarteten Thema auf: Feminismus. Dringliche Inhalte waren ihr wichtiger als der Sieg.

Die Wettkampfszene bezeichnet Spörri als ihre Lebensschule, sie bot ihr zum ersten Mal die Möglichkeit, sich auszuprobieren. Der Hip-Hop war es denn auch, der die Tänzerin Anfang 20 nach New York führte, wo sie ein internationales Trainingsprogramm am Peridance Center besuchte, oder nach Los Angeles zu Programmen der Choreografin Rhapsody James, einer Pionierin der Streetdance-Szene. Mit 26 verliess sie Bern erneut, dieses Mal für London, mit nur 400 Franken in der Tasche. Als sie vor ihrer Abreise kurz zögerte, meinte ihre Mutter zu ihr: «Wenn du jetzt nicht gehst, gehst du nie.» Spörri zog los – und blieb zwei Jahre.

Im Ausland merkte sie, dass es als Tänzerin einen Platz für sie gab. Etwas, das sie in der Schweiz bis dahin anders wahrgenommen hatte: Als sie sich in Bern einst für einen Job für die «grosse Bühne» bewarb und nur Tänzerinnen mit Kleidergrösse S und Schuhgrösse 37 gesucht wurden, war für sie klar: «Das bin nicht ich.»

Repräsentation und Black Joy

«Black Lives Matter made my career», sagt Spörri. Um diesen Satz zu verstehen, muss man nach Bern ins «café revolution», das in einem der zahlreichen Atelierräume des Progr, des Zentrums für Kulturproduktion mitten in der Stadt, eingemietet ist. In den Regalen an der dunkelgrün gestrichenen Wand stapeln sich Matten, Kissen und Bücher wie «Postkoloniale Schweiz», «I will be different every time», «How to Be an Antiracist» oder «Reise in Schwarz-Weiss». Gegründet wurde das «café revolution» von Spörri und weiteren sieben Schwarzen Frauen im Zuge der weltweiten Black-Lives-Matter-Demonstrationen im Jahr 2020.

Spörri sitzt auf dem cremefarbenen Sofa in der Mitte des Raumes und sagt: «Es entstand aus einem Wunsch nach einem Ort, den wir gerne gehabt hätten, als wir jünger waren.» Das Wort «café» im Namen ist indes rein symbolischer Natur. Vielmehr ist das «café» heute ein Ort für aktives antirassistisches Wirken, Selbstermächtigung, Bildung, Kultur, wie auch für Treffen, Austausch und Vernetzung für Schwarze und Schwarzgelesene FINTA und alle an antirassistischer Arbeit interessierten Menschen.

Aktuell findet das Kollektiv einmal in der Woche zu einer Sitzung zusammen. «Das ist Freiwilligenarbeit mit einem hohen Zeitaufwand», sagt Spörri. Das Programm, das sie dabei zusammenstellen, ist vielfältig. Es finden Lesungen, Workshops und Filmabende statt, und immer wieder werden Mitglieder des Kollektivs an Podiumsgespräche eingeladen.

Neben den vielen Events und der, wie Spörri sagt, «intellectual stimulation», dürfe nicht zu kurz kommen, sich als Community auch einfach mal zu feiern. Zum Beispiel am alljährlichen End-of-Summer-Fest, das ganz bewusst draussen auf dem grossen Platz stattfindet. Dort, wo man als Community sichtbar sei. Denn es gehe auch um Repräsentation. Und Black Joy. Diese sei wichtig und etwas, das ihr früher gefehlt habe, sagt Spörri.

In «PERSPECTIVES» werden Hip-Hop, zeitgenössischer Tanz, Spoken Word und Beats zu kraftvollen Werkzeugen der Auseinandersetzung mit Diskriminierung. Copyright: Laura Gauch

Aktivismus als Türöffner

Durch ihr Engagement beim «café revolution» haben sich Spörri viele Türen geöffnet, insbesondere auch jene von Kulturinstitutionen. Weil sie aus dem Hip-Hop kommt und keine zeitgenössische Tanzausbildung hat, sei dieser Zugang nicht selbstverständlich. Spörri: «In den letzten Jahren merkten die Leute jedoch immer mehr, dass wir auf den Theaterbühnen zu wenig Stimmen Schwarzer Künstler*innen haben.» Als das Schlachthaus Theater Bern Spörri anfragte, ob sie für das «café revolution» einen Ort brauche, sagte sie: «Den haben wir schon. Was ich brauche, ist ein Ort für ein neues Stück.»

Im Januar 2023 feierte «PERSPECTIVES» im Schlachthaus Premiere und war für PREMIO nominiert, den Nachwuchspreis für Darstellende Künste.

Spörris Arbeiten sind oft geprägt von Identitätsfragen. Sie vertieft dabei durch eine Fusion von Tanzstilen, Text und Spoken Word persönliche Themen und schafft eine Intimität, die zur Hinterfragung der eigenen Normen ermutigen soll. So auch bei der feministischen Tanzperformance «Becoming Unapologetic», ihrer ersten Arbeit für die Theaterbühne, die Ende März 2019 Premiere feierte. Oder bei der Produktion «drzwüsche», die sie mit dem Tänzer und Choreografen Muhammed Kaltuk erarbeitet hat. Die zwei Künstler*innen warfen dabei einen abstrakten Blick auf das Herausstechen und Anpassen.

In «PERSPECTIVES» kombinieren Spörri und die Tänzer*innen Eshidoreen Paradiso, Sophie Chioma Gerber und Gifti Tekako ebenfalls Tanz und Spoken Word, um sich rassistischen Mikroaggressionen zu stellen, denen in der Schweiz und Europa lebende People of Color jeden Tag aufs Neue ausgesetzt sind.

Diese können zum Beispiel in der immer wiederkehrenden Frage zum Ausdruck kommen, woher man denn «eigentlich» komme. Es sei nicht die Frage an sich, die sie störe, sagt Spörri. Sie sei stolz, dass Simbabwe ein Teil von ihr sei, aber man nehme ihr mit dieser Frage das, was sie mit der Schweiz verbindet, weg – in nur einer Sekunde. Wenn dann jemand sage: «Ah, deine Mutter ist Schweizerin», antworte sie jeweils: «Ja, sie ist eine weisse Schweizerin.» Spannend, sagt Spörri, dass man nur das Schwarzsein immer definieren müsse.

«Ich wollte einfach, dass die Leute für fünf Minuten spüren, wie sich die Hilflosigkeit anfühlt, wenn du Mikroaggressionen ausgesetzt bist, die nicht gross genug sind, dass man reagiert, die aber doch so viel auslösen.»

Vielleicht auch deshalb wirft sie in «PERSPECTIVES» die normativen Perspektiven über den Haufen. So wird das weisse Publikum zu Beginn des Stücks mit «Du sprichst ja so gut Deutsch» adressiert oder: «Seid ihr zwei Schwestern? Ihr seht genau gleich aus.» Spörri erinnert sich an den Entstehungsprozess: «Wir mussten bei der Erarbeitung dieser Beispiele so oft lachen.» Das habe viel Leichtigkeit in die schwere Thematik gebracht: «Rassismus als Konzept ist so schlimm, gewalttätig, gefährlich, oft auch tödlich – aber es ist auch einfach so dumm.»

Die Absurdität von Rassismus mit Humor zu nehmen, hiess aber nicht, dass kein Platz für Frustration und Traurigkeit blieb. So kam es immer wieder vor, dass die Crew während der Proben nicht getanzt, sondern stattdessen den ganzen Nachmittag miteinander geredet hat. Helfen tat manchmal auch das Arbeiten mit festen Choreografien. «Dabei konnten wir unsere Gefühle besser kontrollieren. Wenn wir die Verletzlichkeit im Tanz aufgriffen, war es immer eine sehr bewusste Entscheidung.»

Bewegte Gemüter

Manche sagen, das Mittel des Perspektivenwechsels sei Rache, sagt Spörri und blickt kurz aus dem Fenster. Doch das stimme nicht: «Ich wollte einfach, dass die Leute für fünf Minuten spüren, wie sich die Hilflosigkeit anfühlt, wenn du Mikroaggressionen ausgesetzt bist, die nicht gross genug sind, dass man reagiert, die aber doch so viel auslösen.»

Obwohl die Premiere von «PERSPECTIVES» bereits zwei Jahre zurückliegt, ist sie noch immer vor jeder Vorstellung nervös. Denn der Inhalt des Stücks bewegte die Gemüter schon in alle Richtungen: Weil eine Tänzerin bei einer Vorführung von einer weissen Person aus dem Publikum von der Bühne gestossen wurde, mussten die Care- und Schutzmassnahmen verstärkt werden. Ein anderes Mal wandte sich eine ebenfalls weisse Frau aus dem Publikum nach der Show an Spörri und kritisierte, dass es doch langweilig sei, das Thema Rassismus immer noch zu diskutieren. «Ich sass nur da und dachte: O wow, the audacity! Bevor du mir was zum Tanz sagst, kommentierst du meine Erfahrungen mit Rassismus.»

Sie sei in solchen Diskussionen inzwischen kulanter geworden, sagt Spörri, fügt aber hinzu: «Meine Kunst soll dir was mitgeben. Wenn dir das nicht reicht, dann habe ich manchmal die Kapazität, mit dir weiterzureden, manchmal aber auch nicht.»

Auf die Frage, ob und wie sich die Reaktionen des Publikums in den letzten zwei Jahren grundsätzlich verändert haben, sagt Spörri: «Bei den ersten Vorstellungen hat das Publikum bei den Umkehrbeispielen noch gelacht. Heute lachen sie weniger.» Man sei inzwischen weiter im Diskurs, es sei den meisten klar, weshalb gewisse Fragestellungen wie «Darf ich deine Haare anfassen?» problematisch sind, «also ist es auch nicht mehr so lustig».

Anna Chiedza Spörri: «Wenn wir die Verletzlichkeit im Tanz aufgriffen, war es immer eine sehr bewusste Entscheidung.» Copyright: Laura Gauch

PoC fühlten sich gehört und gesehen

Auch die Körpersprache in den Solos der Tänzer*innen sind mittlerweile nicht mehr die gleichen wie noch am Anfang. Spörri etwa war zu Beginn viel wütender, auf der Bühne zeigte sich das in einem Schrei, der ihr im Hals stecken blieb. Das hat sich auch durch ihre aktivistische Arbeit verändert. Sie setzt heute immer mehr auf einen konstruktiven Dialog. Diese Professionalität schränkt sie manchmal zwar etwas ein, doch wenn sie alle nur anschreien würde, bekäme sie wohl keine Einladungen mehr zu Podiumsgesprächen oder Interviews, sagt Spörri schmunzelnd.

Viele People of Color meldeten ihr nach dem Stück jeweils zurück, dass sie sich darin gehört und gesehen gefühlt hätten. Diese Reaktionen sind ihr am Ende am wichtigsten, noch vor dem «educational aspect of it». Ein Besucher hatte nach einer Vorstellung gar Tränen in den Augen, weil die Performance so viel in ihm ausgelöst hatte. Er ist nun Teil der Arbeit, die Spörri aktuell mit vier Männern erarbeitet. Sie heisst «PERCEPTIONS», was so viel bedeutet wie Wahrnehmungen, und ist eine Fortsetzung von «PERSPECTIVES» – und damit eine weitere von Spörris Geschichten.

Anna Chiedza Spörri lebt in Bern und arbeitet als Tänzerin, Choreografin und Aktivistin. Sie fokussiert sich mit ihrer vielfältigen tänzerischen Erfahrung und akademischen Ausbil- dung in Sozialanthropologie auf aktivistische Kunst. Sie reflektiert in ihrer Kunst ihre Realitäten und will Zugang für kunst- schaf­fende PoC-Menschen schaf­fen wie auch Empowerment fördern.

EIN KLEINES GLOSSAR

FINTA ist eine Abkürzung für «Frau, inter, non-binär, trans* und agender people» und bezieht sich auf eine Gruppe von Menschen, die aufgrund ihrer Geschlechts- identität oder ihres Geschlechtsausdrucks Dis- kriminierung erfahren.

PoC ist die Abkürzung
für People of Color, eine Selbstbezeichnung von Menschen mit Rassismus- erfahrung.

«PERSPECTIVES»
Anna Chiedza Spörri

Veranstaltungen:
Mi, 19.03.2025, 19 Uhr, Halle Ost
Do, 20.03.2025, 19 Uhr, Halle Ost

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