Zur Übersicht

Interview

«Bei Nacktheit auf der Bühne wünsche ich mir mehr Vielfalt»

Jessica Sigerist, Gründer*in des queerfeministischen Sexshops untamed.love, ist froh, sich immer weiter wegbewegen zu können von Normvorstellungen darüber, wie ein Körper aussehen, was er leisten oder wie er sich anfühlen muss.

Rahel Bains, 29. November 2024

Jessica Sigerist glaubt, dass die Liebe grösser wird, wenn man sie teilt. Copyright: Andrea Ebener

Vor fünf Jahren hat Jessica Sigerist den queerfeministischen, sexpositiven Online-Sexshop untamed.love gegründet, der im Dezember in der Gessnerallee seine Jubliäumsparty feiert. Sigerist hat sich in den vergangenen Jahren als wichtige Stimme zu Themen wie (queerer) Sexualität, Sextoys, Feminismus, alternative Beziehungsformen oder Sexpositivity etabliert. Im Interview spricht die Zürcher*in über die Schnittstellen von Theater und Sexshop, Kommerz-Kritik und die Themen, die in Bezug auf Körper und Sexualität gerade am meisten bewegen.

Rahel Bains: Ihr feiert das fünfjährige Jubiläum von untamed.love bei uns an der Gessnerallee. Wo siehst du Schnittstellen zwischen Sexshop und Theater? 

Jessica Sigerist: Sexshops haben traditionellerweise was Schmuddeliges, Verruchtes an sich. Es ist etwas, das am Rande der Gesellschaft stattfindet, in der dunklen Gasse. Man geht unauffällig hinein und kommt mit einem unauffälligen Sack wieder raus. Wenn wir als queerfeministischer Sexshop dann im Pfauen, in der sogenannten Hochkultur, für einige Tage einen Pop-up-Store betreiben wie vor ein paar Jahren, kann das schon provozieren und zum Nachdenken anregen. Dabei stellt sich die Frage: Was ist Kultur und was nicht? Theater hat sehr viel mit Körper, Körperlichkeit zu tun – wie auch Sexualität. Es sind zwei Welten, die sich eigentlich gut verknüpfen lassen. Wir haben in der Vergangenheit nebst dem Schauspielhaus auch schon mit dem Jungen Theater Solothurn, dem Theater Hora und dem crip-queer Theaterprojekt Criptonite aus Zürich zusammengearbeitet. Vor allem, wenn es um queere Sexualität und Trans Themen geht, können wir gut beraten und andere Sichtweisen aufzeigen.

«Die Verbindung von Sex und Geld scheint die Menschen sehr zu bewegen und aufzuwühlen.»

Jessica Sigerist

Wie haben Inszenierungen am Theater, in denen es um Körper oder Sexualität ging, jeweils auf dich gewirkt?  

Unterschiedlich. Ich habe schon Vorstellungen gesehen, bei denen zum Beispiel übergriffiges Verhalten normalisiert und nicht als nicht konsensuell eingeordnet wurde. Oder Stücke, in denen Trans- und Queerness problematisch dargestellt wurden. Umso schöner fand ich dann zum Beispiel «Gaze.S» von Romy Alizée und Marianne Chargois, das während der letztjährigen Porny Days im Schauspielhaus lief. Das Stück war so liebevoll, verletzlich und gleichzeitig stark umgesetzt – und führte dann aber wegen Live-Fistings auf der Bühne zu einem aufgebauschten medialen Skandal. 

Allgemein kann man sagen: Wenn es zum Beispiel um Nacktheit auf der Bühne geht, habe ich schon das Gefühl, mehrheitlich weisse, schlanke, nicht behinderte Körper zu sehen, da würde ich mir mehr Vielfalt wünschen. Das Theater war schliesslich schon immer ein Ort, an dem progressive Sachen stattfinden. Solche Pionierarbeit wird auch in Zürich geleistet, hier stellt sich aber die Frage, was in wie grossen Häusern stattfindet und wie stark von wem finanziert wird. Oft haben Stücke, die ich persönlich spannend und progressiv finde in Bezug auf Queerness, Sexualität und alternative Beziehungsformen, immer in nischigen und kleinen Räumen stattgefunden. Aber irgendwo muss es ja anfangen. 

Auch Communityarbeit- und Bildung ist ein grosser Teil von Jessica Sigerists Arbeit. Copyright: Andrea Ebener

Das Theater ist ja auch immer ein Ort, an dem Kritik geübt wird – von innen wie von aussen. Welche Kritik musstest du mit untamed.love einstecken?

Wir wurden auch schon dafür kritisiert, ein kommerzielles Unternehmen zu sein beziehungsweise dass wir Sexualität kommerzialisieren. Die Verbindung von Sex und Geld scheint die Menschen sehr zu bewegen und aufzuwühlen. Ein Teil unserer Arbeit besteht aus Communityarbeit und Bildung, zum Beispiel in Form von Erklärvideos und Workshops. Es ist fast ein wenig ironisch: Wir machen einen Teil unserer Arbeit unbezahlt und werden dann umso mehr dafür kritisiert, wenn wir was Kommerzielles machen. Zudem spielt bei der Kritik auch die von patriarchalen Gesellschaftsstrukturen geprägte Vorstellung mit, dass alles, was mit Sex- oder Care-Arbeit zu tun hat, von – meistens weiblichen – Personen aus reiner Liebe passiert und, dass es unmoralisch ist, dafür Geld zu verlangen.  

«In den letzten fünf Jahren war ich schwanger, habe geboren und eine Stillzeit erlebt. Das war, glaube ich, das Wildeste, was ich je mit meinem Körper gemacht habe.»

Jessica Sigerist

In den vergangenen fünf Jahren hattest du vor allem auch im Rahmen von Workshops zu Themen wie «Love your Vulva», «How to Consent» oder «Creative Sexting» einen regelmässigen und direkten Austausch mit eurer Community. Was sind aktuell die drängendsten Themen, die in Bezug auf Körper und Sexualität bewegen?  

Nicht monogame Beziehungsformen sind ein Riesenthema. Unsere Speeddating-Anlässe für nicht monogame Menschen sind immer ruckzuck ausverkauft. Auch zum Thema «Konsens» ist wahnsinnig viel passiert in den letzten fünf Jahren. Als wir damals während unserer Anfänge den ersten Konsens-Workshop vorbereitet hatten, fand ich im deutschsprachigen Raum fast keine Unterlagen dazu. Wir waren unter den Ersten, die sich dem Thema gewidmet haben. Mittlerweile ist das Angebot grösser geworden. Schön, dass sich immer mehr Leute damit auseinandersetzen. Ich hoffe aber, dass sich künftig mehr cis Männer dem Thema widmen, denn ihr Anteil an den Workshops ist leider noch immer sehr klein im Gegenteil zu Workshops wie «Nicht monogame Beziehungsformen» oder «Wie geht ein Dreier?». Personen mit Vulvas und oder queere Menschen haben in den letzten Jahrzehnten wahnsinnig viel gemacht, um mehr über die eigene Sexualität zu erfahren und sich selbst zu ermächtigen. Heterosexuelle cis Männer können da noch sehr viel nachholen in Form einer Emanzipation, in der sie sich von starren Rollenbildern loslösen.

Wie hat sich deine eigene Beziehung zu deinem Körper und deiner Sexualität verändert, seit du untamed.love gegründet hast und du quasi immer von diesen Themen umgeben bist?

In den letzten fünf Jahren war ich schwanger, habe geboren und eine Stillzeit erlebt. Das war, glaube ich, das Wildeste, was ich je mit meinem Körper gemacht habe. Aber klar, die berufliche Auseinandersetzung spielt schon mit, ich habe mich wahrscheinlich intensiver mit gewissen Themen auseinandergesetzt als andere. Das hat mich in einen Frieden mit meinem Körper gebracht. Ich bin froh, dass ich mich immer weiter wegbewegen konnte von Normvorstellungen in Bezug auf wie ein Körper aussehen, was er leisten oder wie er sich anfühlen muss.

Die letzten fünf Jahre untamed.love in fünf Worten? 

Es war einfach super (lacht). Und sicher auch lustig, oft auch nervenaufreibend. Spannend, interessant. Und die Community war und ist wichtig. Ich durfte mit so vielen tollen Leuten, Organisationen und anderen Geschäften zusammenarbeiten. Und manchmal ist es auch einfach ein wenig absurd, in dieser Branche tätig zu sein. Das sind jetzt mehr als fünf Worte.

Jessica Sigerist

Jessica Sigerist (keine Pronomen oder they/them) ist queere:r Sex Educator, nicht-binärer Elternteil und polyamouröse:r Aktivist:in. Jessica hat den queerfeministischen Sexshop untamed.love gegründet, leitet Workshops zu Nicht-Monogamie und schreibt eine Kolumne bei Tsüri.ch.

Zur Veranstaltung

«untamed.night»
Jubliäumsparty
Sa. 7.12.
22:00
Stall6

Glossar

Mehr Beiträge

Die Porny Days

27. November 2024

Von Team Gessnerallee

Das heisseste Film-Kunst-Festival der Stadt in der Gessnerallee. Wochenbrief #15 Lesen

Die Porny Days

27. November 2024

Von Team Gessnerallee

Das heisseste Film-Kunst-Festival der Stadt in der Gessnerallee. Wochenbrief #15 Lesen

Der Lesbian Gaze und der Blick als Einladung

23. November 2024

Von Isabel Gatzke

Mal liegt der Fokus ganz nah am Körper, mal auf dem grossen Ganzen, das die Person ausmacht: Im Theater wird der Blick zum Aushandlungsfeld von Beziehungen und Begehren zwischen den Performer*innen und mit dem Publikum. Lesen

Komisch, traurig, politisch – Audiodeskription und Drag

22. November 2024

Von Noa Winter

Noa Winter, queere*r und behinderte*r Dramaturg*in an der Gessnerallee, spricht mit der queeren, blinden Co-Leitung Amelia Lander-Cavallo der Company Quiplash über ihre Show «Unsightly Drag», über integrierte Audiodeskription und Relaxed Performance. Lesen

Nach oben