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Ein Gedanke zu Theater

Ein Ort für Distanz und Nähe

In diesem Format schreiben verschiedene Autor*innen über ihre «Gedanken zu Theater». Ein Beitrag von Ulrich Khuon zum Ende seiner Interimsintendanz am Schauspielhaus.

Ulrich Khuon, 18. Juni 2025

Schon im 19. Jahrhundert, der Epoche der Bürgerlichkeit, folgten die Menschen selten der inneren Stimme, sondern mehr den gesellschaftlichen Konventionen, einer Ordnung, die oft nicht mit den eigenen Impulsen übereinstimmte. In Theodor Fontanes Novelle «Effi Briest» hat Effi, die Ehefrau von Baron Innstetten, eine Affäre mit dem jungenhaft charmanten Major Crampas. Jahre später erst erfährt Innstetten davon. Er fordert Crampas zum tödlichen Duell, nicht weil er zum Verzeihen nicht bereit wäre, sondern weil die gesellschaftliche Konvention das gebietet und weil das für Innstettens Selbstverständnis als Teil der bürgerlichen Gesellschaft von grösster Bedeutung ist.

Lange her, möchte man meinen. Und doch versucht auch zunehmend der Mensch des 21. Jahrhunderts, den Optimierungszwängen seiner Gemeinschaft, den Vorgaben seines sozialen Umfelds zu folgen. Diese Maximen aus dem Echoraum der Gruppe, der man angehört, entwickeln einen starken Sog und eine geradezu zwanghafte Wirkung, sodass das, was wir eigentlich wollen und was uns als Einzelnen womöglich entspricht, verkümmert.

Franz Kafkas Beobachtung «sich kennt er, den anderen glaubt er, dieser Widerspruch zersägt ihm alles» bewahrheitet sich tagtäglich. Literatur und Theater seit Georg Büchner und Rahel Varnhagen, seit Virginia Woolf und Arthur Schnitzler bis hin zu Maria Milisavljevic und Dea Loher haben immer die Sensibilität und die Einsamkeit des geschwächten Individuums beschützt. Und seine Behauptungskraft gegenüber den übermächtigen Kommandos aus der gesellschaftlichen Schaltzentrale gestärkt. Sie haben die Einzelnen aber auch stets ermuntert, empfindlich zu bleiben gegenüber den Schwächen anderer.

Das Theater ist und bleibt ein wunderbarer Ort für Distanz und Nähe, gerade weil sich in ihm die Wirkmacht der Schwäche und des Defizitären zeigt und kräftigt.

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