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Anekdote

Ein Flop mit grossen Folgen

Gotthold Ephraim Lessing wird ein Job angeboten, den er nicht haben will. Also erfindet er den Dramaturg*innenberuf und denkt das Feuilleton voraus.

Nele Solf, 14. August 2025

Als ich das erste Mal vom Vorhaben der Zeitung der Gessnerallee höre, muss ich an Lessing denken – den deutschen Grossdichter, Grossdenker und Grossaufklärer. Der steckt 1766 recht berühmt, aber arbeitslos in Berlin fest und sucht nach einer Stelle, die Geld bringt und sich mit seiner (von mir vermuteten) Neurodivergenz(1) verträgt.

Ein Jobangebot kommt schliesslich von Johann Löwen, der Lessing als Hausdichter für sein neues Hamburger Nationaltheater anheuern will. Löwen – mehr Theoretiker als Praktiker – hat viel vor. Er will revolutionieren, wie Theater organisiert wird, das wachsende Bürgertum kulturell stärken und statt französischer Dramen(2) deutsche zeigen. Die Schauspieler*innen sollen fest angestellt werden und Löwen will ihnen in seiner hauseigenen Akademie Vorträge über gutes Schauspielen halten. Und natürlich sollen nur gute Stücke gezeigt werden, kein Unterhaltungskram(3).

Am liebsten hätte Löwen öffentliche Theaterförderung, aber die gibt es damals noch nicht. Stattdessen findet sich eine Gruppe von zwölf Kaufleuten, die das Projekt finanzieren. Angeführt wird das Konsortium vom Schweizer Bankier Abel Seyler, der gerade seine zwei Firmen in die Insolvenz manövriert hat und in die Schauspielerin Friederike Sophie Hensel verknallt ist.

Und für dieses ambitionierte Projekt wollen Löwen und Kollegen nun den berühmten Lessing als Hausdichter schnappen. Nur behauptet der von sich, dass sein Hang zur Selbstkritik und seine Ablenkbarkeit ihn zum «langsamen» und «faulen Arbeiter»(4) machen und er nie genug Stücke schreiben könnte. Weil das Theater trotzdem mit ihm angeben will, darf er sich den Job erfinden, den er gerne haben will.

Was Lessing will? Kritisieren! Und zwar alles, was im Hamburger Nationaltheater gezeigt wird. In einem Magazin, das zweimal pro Woche erscheint und für einen Schilling pro Ausgabe oder als Abo für fünf Mark im Jahr gekauft werden kann.(5) Das Magazin nennt er «Hamburgische Dramaturgie» und sich selbst einen Dramaturgen. Er wird angestellt und kriegt 800 Taler im Jahr.

Der Theaterleitung schwebt beim Deal wahrscheinlich eher ein Programmheft vor. Aber Lessing meint es ernst. Weder bei der Kritik der aufgeführten Texte noch bei der Kritik der Schauspieler*innen beisst er sich auf die Zunge. Vor dem Hamburger Nationaltheater hatte das Ensemble unter der Leitung eines schauspielernden Prinzipals gearbeitet und muss sich nun stattdessen von zwei Theoretikern gängeln lassen: Lessing, der ihre Arbeit zweimal pro Woche im hauseigenen Magazin auseinandernimmt, und Löwen, der ihnen in regelmässigen Fachvorträgen ihr Handwerk erklären will. Dafür haben sie keine Geduld. Löwens «Akademie» bleibt leer und die Starschauspielerin Hensel gibt Seyler – mittlerweile ihr Lover – Bescheid, dass ihr Lessings Kritiken zu persönlich werden und er Lessing zurückpfeifen soll.(6)

Statt über die Inszenierungen am Theater schreibt Lessing ab jetzt vor allem seine eigene Theatertheorie weiter. Theoretisch erscheint das Ganze immer noch zweimal pro Woche, praktisch verpasst er wiederholt Textabgaben. Überhaupt ist er immer weniger am Theater und hängt mittlerweile lieber mit seinem Drucker ab, der seine Begeisterung für teures Layout und importiertes italienisches Papier wie auch seine Ahnungslosigkeit über den Buchhandel teilt.(7)

Das Nationaltheaterprojekt scheitert währenddessen. Der Idealist Löwen wird aus der Leitung gedrängt und das Programm auf bekannte und weniger intellektuelle Erfolgsstücke und Unterhaltung gebürstet. Trotzdem floppt es beim Publikum und das Theater ist nach weniger als zwei Jahren pleite und schliesst.

Auch Lessing ist währenddessen mit der Lieferung seiner kritischen Texte nicht nachgekommen, und so kommt das letzte Drittel seiner «Hamburgischen Dramaturgie» erst mit einem Jahr Verspätung als Sammelband heraus. Die darin zusammengefassten Hefte sind trotzdem rückdatiert, als wären sie pünktlich erschienen, obwohl Lessing die Rückdatierung im Text selbst wieder zugibt.(8)

Heute ist die «Hamburgische Dramaturgie» eines der Reclam-Hefte, die sich alle deutschsprachigen Theaterstudierenden im ersten Semester zulegen. Die gescheiterte hamburgische Entreprise ist, ausser bei Fachleuten, komplett vergessen. Lessings Text gilt jedoch als Geburtsstunde des Dramaturg*innenberufs und manchen sogar als Ursprung des Feuilletons.(9)

Theater verfliegt. Das ist so schön wie frustrierend. Die zahlreichen gescheiterten Experimente gehen vergessen, selbst wenn sie Schule machen. Manchmal lohnt es sich aber doch, sie aufzuschreiben.

Quellen

QUELLEN:

Bender, Wolfgang F.: «Hauptwege und Nebenwege. Studien zu Lessings Hamburgischer Dramaturgie». Berlin/Boston 2019.

Fick, Monika: «Lessing-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung». Stuttgart 2016.

Kotte, Andreas: «Theatergeschichte». Köln 2013.

Lessing, Gotthold Ephraim: «Hamburgische Drama turgie». Stuttgart 1981.

Lüddemann, Stefan: «Kulturjournalismus. Medien, Themen, Praktiken». Wiesbaden 2015.

Nisbet, H. B.: «Gotthold Ephraim Lessing. His Life, Work & Thoughts». Oxford 2013.

1 Beschreibungen von Lessings Arbeitsverhalten erinnern mich enorm an (nicht nur) mein eigenes ADHS. Vgl. Lessing, S. 505 ff.; Nisbet, S. 329.

2 Es gab damals entweder Theater für den Adel – der französische Stücke bevorzugte – oder Theater für das Volk – deutschsprachige Possen von fahrenden Truppen. Löwen wollte anspruchsvolles, deutschsprachiges Theater für das neue und selbstbewusster werdende Bürgertum machen.

3 Vgl. Fick, S. 303.

4 Lessing, S. 507.

5 Bender, S. 69.

6 Siehe Nisbet, S. 369.

7 Siehe Bender, S. 66 und 69 f.

8 Lessing, S. 515.

9 Siehe Lüddemann, S. 73.

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