Ist der Tod eine Zumutung? Der griechische Philosoph Epikur verneinte – und schrieb Geschichte mit seiner Behauptung, das Hadern mit der Endlichkeit sei unvernünftig, denn der eigene Tod sei nicht mehr als der stets verpasste Moment: «Wenn ‹wir› sind, ist der Tod nicht da; wenn der Tod da ist, sind ‹wir› nicht.»
Doch Epikur überzeugt nicht alle. Schon richtig, dass wir unseren Tod nicht erfahren werden. Aber fürchten nicht viele vor allem den Sterbeprozess davor oder den Tod geliebter Menschen – ein Verlust, der uns durchaus viel angeht? Ausserdem ist der Tod durchaus eine Zumutung, nämlich dann, wenn er nicht herbeigesehnt wird, sondern verfrüht an die eigene Türe klopft. Seine Grausamkeit besteht nämlich nicht darin, dass tot zu sein bedrohlich wäre, sondern dass er uns das Leben entreisst. Das beschrieb der Regisseur Christoph Schlingensief, der in seinen Vierzigern an Krebs erkrankte: «Das Schlimmste ist, glaub ich, dass alles Fiktive, alles für die Zukunft Erträumte ausgeträumt ist. (…) Sich etwas auszudenken, sich etwas auszumalen, von mir aus auch Illusionen zu haben – das ist alles ein grosser Glücksrausch, auch wenn ich ihn nicht immer als Glück wahrnehmen konnte. Und jetzt ist man 47 und soll denken: Sei froh, dass Du lebst, und geniess jeden Tag, als sei er dein letzter. Ach, das ist alles eine Scheisse!»
Ein verfrühter Tod ist bitter, weil er jeden Zeithorizont tilgt. Doch wäre es nicht weitaus bitterer, ewig Zeit zu haben und gar nie zu sterben? Dutzende Male um die Welt reisen, alle Instrumente eines Orchesters erlernen und tausend Jahre Zeit, um sich durch eine ganze Bibliothek zu lesen … Würden in der ewigen Repetition nicht selbst die ausgedehntesten Reisen, die prickelndsten Affären, die interessantesten Studien öd? Ganz abgesehen davon, dass sich auch Liebeskummer, Magenverstimmungen und Misserfolge in die Repetitionsschlaufe fügten. «Die Ewigkeit dauert lange, besonders gegen Ende», sagte Woody Allen einmal. So unrecht hat er vermutlich nicht. Wobei: Ein bisschen Ewigkeit, nähmen wir die nicht alle gern?
«Sterblichkeit wird aber nur zum Glückszuwachs und zur eigentlichen Intensivierung unseres Daseins, wenn wir sie nicht verdrängen, sondern ins Leben integrieren.»
Vielleicht ist da ein Gedanke der Existenzphilosophie hilfreicher: Mit der eigenen Endlichkeit zu rechnen, ist wie ein Brennglas, das sichtbar macht, was zählt. Wären wir unsterblich, würden wir vieles stets aufschieben. Morgen ist ja auch noch ein Tag, und zwar einer unter unendlich vielen. Die Einsicht, dass unser Leben ein Verfallsdatum hat, zwingt uns, mit wichtigen Vorhaben Ernst zu machen. Der deutsche Philosoph Martin Heidegger spricht von der Gefahr des «uneigentlichen Lebens», das sich orientiert an der Konvention und an den Wünschen anderer. Es ist gerade das Leben im Angesicht des Todes, das uns ermöglicht, dieser «Uneigentlichkeit», dieser Fremdbestimmung zu entkommen und nicht durchs Leben zu schlittern, als währte es ewig. Tatsächlich kennen wir das vom Auskosten knapper Ferientage oder spärlicher Momente mit einem geliebten Menschen: Es ist die Begrenztheit dieser Zeit, die sie umso kostbarer macht – und zwar nicht nur, weil diese Momente eine Rarität sind, sondern weil wir sie umso bewusster gestalten und geniessen, als sie rasch vorübergehen.
Sterblichkeit wird aber nur zum Glückszuwachs und zur eigentlichen Intensivierung unseres Daseins, wenn wir sie nicht verdrängen, sondern ins Leben integrieren. Iwan Iljitsch schreit in der gleichnamigen Erzählung von Leo Tolstoi «drei geschlagene Tage hindurch», als er realisiert, dass er bald sterben wird.
Brav hat er alle Pflichten abgearbeitet, getan, was man von ihm erwartete, und gelechzt nach sozialer Anerkennung. Erst auf dem Sterbebett kommt ihm der Gedanke: «Wie, wenn in der Tat mein ganzes Leben, mein ganzes bewusstes Leben nicht das Wahre gewesen ist?» Er hat sein eigenes Leben verpasst, statt es bewusst zuzubringen. Das Leben als ein «Vorlaufen zum Tode» zu verstehen, wie Martin Heidegger empfiehlt, mag eine anspruchsvolle Aufgabe sein. Sie wird uns aber mehr Leben schenken, als wenn wir dem Tod zu entkommen versuchen, indem wir ihn mit aller Kraft aus dem Leben verdrängen.
QUELLENANGABEN
Epikur: «Brief an Menoikeus», in ders.: «Briefe, Sprüche, Werkfragmente». Übersetzt und herausgegeben von Hans-Wolfgang Krautz. Stuttgart (1980): Reclam.
Christoph Schlingensief: «So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein! Tagebuch einer Krebserkrankung». München (2010): btb.
Martin Heidegger: «Sein und Zeit». Tübingen (1926): Max Niemeyer Verlag.
Leo Tolstoi: «Der Tod des Iwan Iljitsch». Leipzig (1992): Reclam.
Zur Autor*in
Barbara Bleisch, *1973, ist Philosophin und Autorin und moderiert seit 2010 die «Sternstunde Philosophie» (SRF). Ausserdem ist sie Dozentin für Ethik in verschiedenen universitären Weiterbildungsstudiengängen. 2020 wurde Bleisch zur Schweizer Journalistin des Jahres in der Kategorie «Gesellschaft» gekürt. Im Juli 2024 erschien ihr neustes Buch «Mitte des Lebens. Eine Philosophie der besten Jahre» bei Hanser (München).