Es tut mir sehr leid, das zu hören, das klingt wirklich furchtbar. Die Auseinandersetzung mit solchen Themen ist eng mit deiner künstlerischen Arbeit verbunden. Einen Schwerpunkt deiner Praxis nennst du das «Konzept des politischen Körpers».
Ich denke, beides hängt sehr eng zusammen. Für mich ist der politische Körper ein sehr komplexes philosophisches Konzept. Als Künstlerin kann ich mich von komplexen Themen inspirieren lassen und versuchen, diese zu verdichten. Für mich ist die politische Macht der Körper eine Inspiration. Wenn man bei seinem eigenen Körper bleibt, egal in welchem Kontext man sich befindet, ist der Körper voller Bedeutung. In verschiedenen Kontexten kann sich die Bedeutung ändern, aber man kann sie nicht entfernen.
Wir leben in einer Gesellschaft, die voll von kulturellen Bildern ist. Und so sind zum Beispiel die Machtverhältnisse zwischen Körpern je nach gesellschaftlichen Kontexten unterschiedlich. Das gilt für alle Menschen. Jeder Körper hat eine Bedeutung. Mich interessiert insbesondere der künstlerische Ansatz, bei dem Menschen versuchen, die Bedeutung, die die Gesellschaft ihrem Körper beimisst, für sich zu entdecken, sie sichtbar zu machen und mit ihr zu spielen.
In meiner künstlerischen Praxis verwende ich zum Beispiel oft ein sehr einfaches Bild: Du und ich sind auf einer Strasse, es ist nicht sehr hell und wir gehen in zwei verschiedene Richtungen. Was denken wir dabei über die jeweils andere Person? Ich vermute, dass du grösser bist als ich, weil ich sehr klein bin. Wenn ich also alleine auf der Strasse bin, ist meine erste Reaktion vielleicht, Angst zu haben. Und vielleicht ist es das erste Mal in deinem Leben, dass du jemanden mit einem Körper wie dem meinen siehst. Also ist deine erste Reaktion vielleicht eine unbekannte Verwirrung. Der politische Körper bedeutet für mich, über die Beziehungen in einer Gesellschaft zu sprechen. Vorurteile sind etwas, das alle Menschen betrifft. Also müssen wir uns darum kümmern. Ich kann meinen Blick auf dich ändern. Um im Dialog zu bleiben, übernehme ich gleichzeitig auch einen Teil der Verantwortung für den Dialog. Wir können die Vorstellung von anderen Menschen ändern, wenn wir uns die Zeit nehmen, in diesem ersten Moment der Beziehung ein wenig länger zu verweilen.
Bei der Produktion «Gentle Unicorn» passiert genau das. Ich stelle meinen Körper in den Mittelpunkt der Aufführung. Denn ich weiss, dass mein Körper normativen Vorstellungen nicht entspricht. Es ist ein Körper, der in gewisser Weise seltsam ist. Das ist wahr. Er ist anders als der Körper der meisten mir bekannten Frauen in meinem Alter. Er ist klein. Und weil ich eine genetische Krankheit habe, sind alle meine Körperformen anders. Mein Rücken ist anders, meine Beine sind anders. Und auch meine Bewegungen.
In «Gentle Unicorn» benutze ich meinen Rollstuhl nicht. Ich arbeite nur mit meinem Körper. Das heisst, ich bleibe auf dem Boden. Und die gesamte choreografische Recherche basiert auf meiner Art des Gehens ohne Rollstuhl. Als ich mit meiner Kollegin an der Performance zu arbeiten begann, ging es um den Gang, Chiaras Gang.
Der erste Teil ist der Idee gewidmet, sich die Zeit zu nehmen, eine neue Art der Bewegung zu beobachten. Ich lade das Publikum dazu ein, sich die Zeit zu nehmen, alle Gedanken zu haben, die es haben will, die schlechten und die guten. Alle sollen sich die Zeit nehmen können, diese Gedanken zu verändern. Die Zuschauenden sollen sich auch die Zeit nehmen, die Mechanik dieser Gedankenwege zu verstehen, denn alles ist eine Mechanik. Wenn ich auf der Bühne stehe, sehe ich das Publikum die ganze Zeit, weil es während der Show sehr nah bei mir ist. Und ich habe Zeit, es zu beobachten, zu verstehen, ob es offen oder ängstlich ist oder sich in einer unbequemen Position befindet. Ich habe Zeit zu verstehen, ob jemandem nicht gefällt, wie ich in diesem Moment aussehe. Und es ist ein Moment für mich, um zu verstehen, ob es einen Teil des Publikums gibt, der mich unterstützt. Es ist ein Moment, in dem die beiden an dieser Beziehung beteiligten Subjekte die Zeit haben, sich gegenseitig zu studieren. Ich studiere das Publikum und das Publikum studiert mich. Dann konzentriert sich der Rest der Show auf die Möglichkeit, eine temporäre Beziehung zwischen mir und dem Publikum als Ganzes aufzubauen, aber auch zwischen den verschiedenen Menschen, die im Publikum sind.
Es ist wie das erwähnte Beispiel von den zwei Personen, die auf der Strasse unterwegs sind. «Gentle Unicorn» nimmt dieses Bild auf und dehnt es in eine lange Begegnung aus.
Man nimmt sich die Zeit, die man im Theaterraum hat, um diesen einen Moment zu dehnen, was auf der Strasse wahrscheinlich nicht möglich wäre, weil man dort aneinander vorbeigeht und dann der Moment vorbei ist.
Die Idee der Zeit ist eine meiner Obsessionen. Wir Menschen brauchen Zeit. Wir brauchen Zeit, um eine Person kennenzulernen, die für uns neu ist, um die Bedürfnisse dieser Person zu erfahren, um das Vokabular zu entdecken, das sie bevorzugt. Und wenn man keine Zeit hat, sollte man vorsichtig sein und nichts über Menschen erzählen, denen man noch nicht richtig begegnet ist. Ich denke, dass das für jede neue Begegnung mit einer Person gilt. Besonders möchte ich aber Situationen hervorheben, wenn man zum Beispiel zum allerersten Mal jemandem mit einer Behinderung begegnet oder wenn man auf Personen trifft, die einer Gruppe von Menschen angehören, die man nicht kennt. Dann braucht man Zeit, sich gegenseitig zu erfahren.
«Gentle Unicorn» tourt schon seit 2018, und nun zeigst du es 2025 in Zürich. Hast du das Gefühl, dass sich etwas verändert hat?
«Gentle Unicorn» ist für mich ein sehr seltsames Stück. Ich habe es im Studio vorbereitet. Und ab dem Zeitpunkt der Premiere begann eine neue Phase der Stückentwicklung, denn es ist eine Performance, die Zuschauer*innen braucht. Es handelt sich um eine Komposition in Echtzeit, aber nicht um eine Improvisation. Die Dramaturgie ist sehr klar, aber innerhalb derer gibt es grosse performative Freiräume, die nicht festgelegt sind. Dank des starken choreografischen Vokabulars und dank der Struktur kann ich eine Komposition in Echtzeit machen. Es ist, als ob ich in Beziehung zu den Menschen im Publikum komponiere, zu den Blicken, der Energie.
Nach der Premiere ging es im ersten Jahr der Aufführungen vor allem darum, zu verstehen, was es bedeutet, in Echtzeit zu komponieren. Danach hatte ich alle Instrumente, um dem Stück zu dienen, auch in psychologischer Hinsicht, denn manchmal ist das Publikum sehr abweisend und nicht aufgeschlossen.
Die Shows sind jedes Mal völlig anders – auch wenn wir die Produktion fünfmal in derselben Stadt im selben Theater präsentieren. Wenn wir aus Europa hinausgehen, entdecken wir andere Möglichkeiten. Wenn wir Kinder im Publikum haben, wenn wir ältere Menschen im Publikum haben, ist es auch anders. Wenn wir Geflüchtete im Publikum haben, ist es wieder anders, weil zum Beispiel die Erfahrung in Bezug auf Behinderung eine andere ist. Das Ziel ist, in der Balance zwischen den verschiedenen Blicken zu bleiben. Für mich ist es besonders eindrucksvoll, wenn Menschen mit Behinderungen im Publikum sind. Es ist erstaunlich, wenn das passiert. Wie gesagt, es ist jedes Mal völlig anders. Und ich denke, dass das die unerschöpfliche Quelle dieser Arbeit ist, die niemals endet.