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Interview

«Wir sind harte Arbeiter*innen und geniessen das»

Die in Lausanne lebende Choreografin und Tänzerin Mélissa Guex spricht über den Entstehungsprozess ihrer Arbeit «DOWN (full album)», über das Gefühl, am Boden zu sein, und über die Einladung, gemeinsam zu versinken.

Kathrin Veser, 25. September 2024

«DOWN» ist eine Performance, bei der die Tänzerin Mélissa Guex so sehr in der Gegenwart ist, dass sie sich keine Fragen stellt. Copyright: Alan Heiniger

Mélissa Guex und Kathrin Veser lernten sich 2022 bei einem Austausch zwischen sieben Künstler*innen aus verschiedenen Schweizer Sprachräumen kennen. Mélissa berichtete damals, wie sie zusammen mit einem Schlagzeuger einen kleinen choreografischen Versuch, ein Try-out, entwickelt hat, der beim Publikum überraschend gut ankam und danach viele Tournee-Anfragen erhielt. Eineinhalb Jahre sind seit dieser Begegnung vergangen, und aus dem ersten Versuch wurde ein abendfüllendes Stück. Dieses ist nun Teil des Saisonstarts der Gessnerallee 2024/25. Ein perfekter Zeitpunkt für ein vertieftes Gespräch mit Blick zum Ausgangspunkt der Arbeit und zum Weg ihrer Entwicklung. 

Kathrin Veser: Vom kleinen Try-out «DOWN (single version)» zur abendfüllenden Show «DOWN (full album)». Wie hat das alles begonnen?

Mélissa Guex: Es begann damit, dass ich eine Carte blanche, also einen Unterstützungsbeitrag ohne Bindung an ein bestimmtes Projekt, vom Theater Grütli in Genf für das Go-Go-Go-Festival erhalten habe. Kurz darauf habe ich den Schlagzeuger Clément Grin zum ersten Mal getroffen. Nach einer ersten Arbeitssession war klar, dass ich unbedingt eine Arbeit mit ihm entwickeln wollte. Also haben wir ein kleines Try-out, einen ersten Versuch mit dem Titel «DOWN (single version)», im «Grütli» in Genf gezeigt und da beschlossen, dass das der Beginn einer grösseren Arbeit sein soll. Wir gingen mit dem Try-out auf Tour, es war roh und sehr nah bei uns: Es erzählte von der Begegnung zwischen einem Schlagzeug und einem Körper.

Zu Beginn hatte ich ein bisschen Angst, weil ich dachte, dass dies nicht die richtige Weise ist, Performances zu kreieren. Denn normalerweise habe ich meine Shows immer zuerst zu Ende geprobt und dann einem Publikum gezeigt. 

Ich stellte jedoch ziemlich schnell fest, wie sehr es mir Spass macht, meine Arbeiten zusammen mit einem Publikum zu entwickeln. Beim Improvisieren beantworten sich viele meiner Fragen, die ich an die Arbeit habe, viel mehr, als wenn ich allein in einem Studio probe. Die Arbeit entwickelte sich also durch alle Geschichten und Begegnungen am Ende zum «full album».

Ihr habt die Performance an vielen verschiedenen Orten und in verschiedenen Räumen gespielt. Wie hat das Publikum in diesen unterschiedlichen Settings auf euch reagiert?

Wir haben «DOWN (single version)» beim Santarcangelo Festival in Italien gezeigt, auf dem Marktplatz mitten in der Stadt. Es war die einzige Show mit freiem Eintritt – und der ganze Stadtplatz war voll. Ich habe dabei sehr viel darüber gelernt, wo und wie wir die Arbeit zeigen wollen und wen wir dazu einladen möchten. Das war ein grosser Schritt im Arbeitsprozess. Und dann haben wir «DOWN (single version)» auf einem Musikfestival gespielt. Wieder ein komplett anderes Setting. Dort mussten wir darum kämpfen, wirklich präsent zu sein und gesehen und gehört zu werden. 

Danach sind wir in Paris auf Tournee gegangen. Das Publikum stand steif am Rand an der Wand und war wirklich, wirklich weit weg von mir. Am Ende der Show erzählte mir dann eine Person, dass sie während der Performance in einer Art Trance gewesen sei. Und ich dachte: «Wow – die Leute beim Musikfestival und die Person in Paris hatten genau dasselbe Gefühl, es sah nur komplett anders aus.» Und so habe ich gelernt zu akzeptieren, dass ich das Publikum nicht dazu verleiten kann, sich zu bewegen – und dass das auch völlig in Ordnung ist. 

«Ich glaube, ich habe in Clément einen Seelenverwandten getroffen, mit dem ich immer improvisieren kann.»

Mélissa Guex

«Down» kann Verschiedenstes bedeuten: am Ende sein, traurig sein, lustlos sein, deprimiert sein. Es ist ein Begriff für ein schweres Gefühl, etwas Düsteres, Trauriges. Was bedeutet es für dich, «down» zu sein?

Ich benutze das Wort «down» sehr oft. Wenn ich zum Beispiel viel toure oder eine lange Residenz habe und zurückkomme, dann bin ich mehrere Tage oder Wochen am Boden zerstört. Diese Arbeit begann mit meinem vermutlich bisher grössten beruflichen «Down». Am Tag meiner ersten Arbeitssession mit Clément habe ich mir meinen Meniskus gerissen. Inmitten der Euphorie dieser ersten Begegnung musste ich sofort aufhören weiterzuarbeiten. Ich musste lernen, dass es in Ordnung ist, Treffen abzusagen und im Bett zu liegen, denn ich war krank. Es ist mir schwergefallen, loszulassen. Ein Teil von mir wollte unbedingt weitermachen. Das Loslassen zuzulassen, hat mir das Weitermachen danach aber überhaupt erst wieder ermöglicht. 

Der Dramaturg vom Théâtre du Vidy in Lausanne hat mich einmal gefragt, ob ich mit dem Stück erzählen möchte, dass wir niemals loslassen, nicht nach unten in die Niedergeschlagenheit gehen sollen. Dass wir lieber immer weitermachen sollen. Das Gegenteil ist der Fall. Für mich ist «DOWN» eine Einladung, unterzugehen und nach unten zu tanzen und nicht zu widerstehen, um oben zu bleiben. 

Und noch weiter gedacht: Für mich ist die Arbeit eine Einladung, gemeinsam nach unten zu sinken. Der Abstieg, das Versinken, beinhaltet für mich die Möglichkeit, dass es da unten etwas Erstaunliches zu entdecken gibt. Und vielleicht schaffen wir es ja, mit dem Obskuren, dem Dämonischen da unten zu tanzen. 

«DOWN» ist die erste Zusammenarbeit zwischen dir und dem Schlagzeuger Clément Grin. Und trotzdem wirkt ihr wie ein Team, das schon lange zusammenarbeitet – wie zwei junge, sehr enge Geschwister. Wie ist diese enge Bindung entstanden?

Ich habe Clément das erste Mal auf einem Festival in Genf gesehen. Da hat er auf einem Schrottplatz auf Autos rumgetrommelt. Die Begegnung war wie ein Blitz, ich habe ihn als eine Art Feuer in Erinnerung. Und dann war unsere erste Arbeitssession so toll, dass ich mein Knie vergessen und zerstört habe. Ich glaube, ich habe in Clément einen Seelenverwandten getroffen, mit dem ich immer improvisieren kann. Und wir haben beide schnell gespürt, dass es in unserer Beziehung auf der Bühne um das Abwechseln von Leiten und Folgen geht, dass es nicht nur eine*n Anführer*in und eine*n Mitläufer*in geben kann. Und ich finde es schön, dass wir uns darauf geeinigt haben, dass unsere Zusammenarbeit eine Menge Arbeit ist. Wir sind beide harte Arbeiter*innen und geniessen das. Am Anfang der Show schaue ich ihn jeweils an und sage: «Du fängst mich auf und ich fange dich auf. Wir sind zusammen hier.»

Gab es Musikstile, die euch beeinflusst haben?

Eine Band, an der wir immer wieder hängen geblieben sind, war «Fugazi», eine Post-Punk-Gruppe aus den Vereinigten Staaten. Vor allem wegen der Wildheit und weil sie eine ähnliche Arbeitsweise wie wir haben. Wenn sie zusammen auf der Bühne sind und herumspringen, scheint es so, als ob alle genau wissen, was die anderen machen werden, obwohl vieles improvisiert ist. «Fugazi» hat uns inspiriert – auch weil ihre Konzerte nur fünf Dollar kosten.

Es gab noch weitere musikalische Inspirationen, aber ich glaube, die wichtigste war die Auseinandersetzung mit unseren verschiedenen künstlerischen Praxen und Körpern. Clément zeigte mir, wie sein Körper Sound und Bewegung erzeugt, und ich reagierte mit meinem Körper darauf. Es war viel technische Arbeit. Wir hielten zum Beispiel fest, welchen Groove wir wollten, und wählten ein Tempo dazu. Wichtig war auch die Kommunikation: Es gibt eine Persona, die ich performe, die wir den «Stier» nennen. Ich habe versucht, mit Worten zu beschreiben, dass ich hier über etwas Tiefes, Dunkles performe, und dann hat er einen Rhythmus vorgeschlagen und dann hab ich gesagt: «Der Stier hat einen dickeren Hintern», und habe den «Stier» performt und dann hat er wieder musikalisch darauf reagiert. 

Du hast mir vor Kurzem diese Nachricht geschickt: «We just performed in Geneva and it was great, great, great!» Was passiert, wenn du «DOWN» performst?

Ich frage mich tatsächlich, wie ich dir einfach so schreiben konnte, dass die Show «great, great, great» war. Vielleicht, weil «DOWN» eine Performance ist, bei der ich so sehr in der Gegenwart bin, dass ich mir keine Fragen stelle. Ich frage mich also nicht, ob die Dramaturgie stimmt, ob die Leute sich langweilen oder ob ich etwas vergessen habe. Ich bin vollkommen im Moment. Das Gefühl, das ich dabei habe, ist grossartig.

Zur Autor*in

Kathrin Veser, *1976, ist Co-Intendantin der Gessnerallee. Weiter arbeitet sie als Dozentin an der ZHdK und als Mentorin im Programm «Disabled Leadership» der Kulturstiftung des Bundes. Davor war sie unter anderem Dramaturgin der Gessnerallee Zürich, Programmdramaturgin des internationalen Festivals Theaterformen in Hannover und Theaterkuratorin am Hebbel am Ufer in Berlin.

Zu den Künstler*innen

Mélissa Guex, Tänzerin und Choreografin, nahm Bewegungsunterricht an der LASSAAD-Schule in Brüssel und studierte an der Manufacture in Lausanne. Sie arbeitete mit Choreografen wie Thomas Hauert, David Zambrano, Martin Kilvady, La Ribot, Kiriakos Hadjiioannou und Kirstie Simson zusammen. Sie kreierte mehrere eigene Arbeiten wie das «Duo Hayali» (2017) mit Emre Yildizar, das Kollektivprojekt «Hors piste» (2018) und das Solo «De ces» (2019). Ihr Soloprojekt «Rapunzel» wurde zu den Zeitgenössischen Schweizer Tanztagen eingeladen.

Clément Grin, Schlagzeuger und Komponist, studierte Performance/Komposition an der Haute Ecole de Musique in Lausanne in der Klasse von Cyril Regamey und Emil Spanyi. Er ist Mitglied der musikalischen Formationen Meimuna, Hold, Monument, Duo Sonore, Gr'Ørch, Bart Plugers Blossom und Blasphemy. Er tritt regelmässig an Orten auf wie dem Jazz Onze+ Festival, Les Docks, Jazzwerkstatt, Cully Jazz Festival, Bee-Flat und Moods.

«DOWN (full album)»
Mélissa Guex

Fr. 27.09. 22:00
Sa. 28.09. 17:00

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