Neue Begegnungen schaffen
Im Tanzproberaum steht kein Tisch, die Bedürfnisse sind anders gelagert. Dieser Raum wird auch mal für wenige Stunden gebucht, dafür häufiger von Einzelpersonen. Für sie kann er eine Trainingsmöglichkeit sein, auch wenn gerade kein konkretes Projekt ansteht. Die Theaterschaffenden hingegen, weiss Liliane Koch, buchen ihren Raum eher als Gruppe und für ganze Tage, oft auch eine Woche am Stück.
Alle Kunstschaffenden könnten die Räume explizit auch buchen, wenn sie noch keine Förderung erhalten hätten, betont sie.
Vor, nach oder zwischen den Proben begegnen sich die Kunstschaffenden verschiedener Sparten in der Zentrale, sie befindet sich in der Mitte der beiden Räume. Gerade ist eine italienischsprachige Theatergruppe angekommen und packt auf dem hellblauenTisch Rivella, Gatorade, Hummus und Trauben aus.
Eine Tänzerin aus dem anderen Raum kommt dazu – «Hello!», «How are you?». Die junge Frau ist Jana Dünner, sie ist im Thurgau aufgewachsen, lebt in Zürich und bereitet aktuell eine Co-Produktion mit dem Phoenix Theater aus Steckborn vor. «Ich bin oft hier. Man kann die Räume nutzen, auch wenn man kein Geld hat.» Dünner ist beim Auftaktfestival der Brücki 2023 aufgetreten und bei einem der nachfolgenden Aufführungsfenster. «Es braucht mehr solche Orte», findet sie, «hier geschieht Austausch.»
Die Begegnungen zwischen Kunstschaffenden beschränken sich nicht nur auf den Probeort an der Hardstrasse, sie setzen sich fort an den Aufführungsfenstern. Am Jubiläumsfestival in der Gessnerallee organisiert das Brücki-Team ein bewusst gemischtes Programm. Die Dauer der Stücke wird begrenzt, dafür sollen möglichst alle Bewerber*innen einen Slot erhalten.
Je nach Aufführungsfenster reichen die Stücke von einer fünfminütigen Tanzchoreografie bis hin zum abendfüllenden Kindertheater. Einige Stücke sind im Entstehen begriffen, andere eine Wiederaufnahme. Wieder andere eine Kurzversion, mit der sich jemand bei einer grossen Bühne für ein grösseres Projekt bewerben möchte. Unter den Auftretenden seien an den durchmischten Aufführungen schon neue Kooperationen entstanden, sagt Liliane Koch – man ist begeistert von einem Tänzer und fragt ihn nach der Performance gleich, ob er im eigenen neuen Stück mitwirken möchte. Und auch für Koch selbst hat sich der Blick geweitet. «Ich hatte nicht besonders viel Ahnung von Tanz», sagt sie. Durch die Brücki habe sich für sie eine neue Welt geöffnet. Und obwohl sie als Verbandsmitglied bestens vernetzt ist in der Freien Theaterszene, habe sie auch im Theaterbereich nochmals neue Leute und eine neue Vielfalt der Szene entdeckt.
Die Brücken, die der unkuratierte Raum schlägt, sind somit vielfältig – zwischen Genres, Künstler*innen, der Freien Szene und etablierten Häusern, zwischen verschiedenen Schaffensphasen. Dieser Charakter eines Brückenhauses ist Liliane Koch und ihrem Team wichtig. Selbst möchte man keine eigene Szene schaffen oder in Inhalte eingreifen. «Unkuratiert» treffe dennoch nicht ganz zu, findet Koch: «Man trifft immer eine Auswahl, auch wenn das bedeutet, möglichst viele Leute auftreten zu lassen.» Sie bevorzugt deshalb die Bezeichnung «selbstverwaltet».
Die Selbstverwaltung funktioniere gut, sagt Koch, im übertragenen wie auch im ganz praktischen, alltäglichen Sinne. Die Räume lassen sich über ein Onlinetool nach dem First-come-first-served-Prinzip buchen. Zur Brücki tragen die Künstler*innen Sorge, sie räumen auf, bringen ihren Müll runter, räumen die Spülmaschine aus, fragen beim Officeteam nach, bevor sie über Nacht eine Tragtasche mit Requisiten deponieren. Und immer wieder findet Koch auf ihrem Schreibtisch Post-its mit netten Worten. «Die Leute sind dankbar und respektvoll.»
«Do you have some ice, my friend hurt a finger» – eine Person aus der italienischsprachigen Theatergruppe hat sich verletzt. Liliane Koch schaut im Gefrierfach nach, was sie anbieten kann. Und auch sonst hilft sie aus. Wenn jemand während einer Probe nicht weiterkommt, schaut sie sich die Szene an und gibt Feedback.
Die Freie Szene aufwerten
Liliane Koch ist selbst Teil der Freien Theaterszene und hat internationale Spielerfahrung. Sie plädiert dafür, Freies Theaterschaffen stärker ins Bewusstsein der Gesellschaft zu rücken, gerade bei jungen Leuten.
Koch stammt aus einer kleinen Stadt in Deutschland. Sie erinnert sich, wie am dortigen Landestheater «Emilia Galotti» in historischen Kostümen aufgeführt wurde. «Ich dachte, nur das sei Theater.» Erst während ihres Studiums entdeckte sie die Freie Szene – den anderen Zugang zu Inhalten, Bewegungen, Ausdrucksweisen. «Für mich war das lebensverändernd.» Nun erlebt sie häufig, wie Menschen im selben Alter wie sie damals keinen Zugang zu dieser Szene finden. Sie hätten Angst, diese Art von Kunst nicht zu verstehen. Trauen sie sich doch in ein Stück und spricht Koch mit ihnen, merkt sie, dass Jugendliche sehr wohl vieles intuitiv verstehen.
Ginge es nach Koch, sollten etwa Schüler*innen im Rahmen von Klassenausflügen häufiger experimentelle Tanz- und Theaterstücke der Freien Szene besuchen, um so die eigene Wahrnehmung zu schulen und eine Sprache dafür zu finden.
Aber geht das nicht auch an etablierten Theatern, mit «Emilia Galotti»? Warum überhaupt findet sie die Freie Szene so wichtig? «Weil sie eine Avantgarde ist», sagt Koch. Vieles, was später an Stadttheatern gespielt werde, entstehe erst in der Freien Szene – einem experimentellen Ort, einem Ort, an dem man Dinge ausprobieren und neu denken könne.
Freischaffend zu sein bedeute zudem auch, selbst zu bestimmen, wie und mit wem man arbeite – anders als an grossen Häusern, wo einem als Regisseurin je nachdem Stücke, Besetzungen und teilweise sogar der Bühnenbildner vorgegeben werde.
Der finanzielle Druck hingegen bleibt für die Freie Szene belastend. Das verdeutlicht die nächste Künstlerin, die in der Brücki auf Liliane Koch zukommt. Laura Ritzenfeld hat einen Nachwuchswettbewerb gewonnen, nun möchte sie sich mit ihrer Theatergruppe für den Auftritt am Theater Drachengasse in Wien vorbereiten und erhält von Koch eine Einweisung in die Räume. Sie entschuldigt sich, dass das Budget nicht reiche, um eine Raummiete zu bezahlen. Koch beruhigt sie. Man werde eine Lösung finden. «Toll, dass es euch gibt», sagt Ritzenfeld.
Wie lange es die Brücki noch geben wird, ist jedoch ungewiss. Denn über das neue Förderkonzept der Stadt Zürich erhielt der Verein die Unterstützung wie regulär vorgesehen für dreieinhalb Jahre, also bis 2026, danach müssen sich Koch und ihr Team erneut bewerben. Und hoffen, dass sie die neu geschlagenen Brücken nicht schon bald wieder abbrechen müssen.