«Das Theater war das Leben, das Leben war Theater»
Ein Vierteljahrhundert arbeiten André Donzé und Küde Brun als Techniker an der Gessnerallee. Zur Pensionierung blicken sie zurück und erzählen, was sie noch mehr interessiert hat als die Technik: das, was auf der Bühne passiert.
«Wir arbeiteten extrem viel und konnten nicht davon leben»: André Donzé und Küde Brun erinnern sich an ihre Zeit als Freelancer in den 80er-Jahren. Copyright: Andrea Ebener
André Donzé steht in der grossen Halle der Gessnerallee. Sein Team ist gerade dabei, den Boden für eine Veranstaltung herzurichten, im Hintergrund läuft Musik. Er selbst wird diese Halle nur noch wenige Male als Lichttechniker beleuchten. Bis zur Pensionierung gilt es noch ein letztes grosses Projekt zu koordinieren, den Benefizanlass «Kitchen Battle» von Cuisine sans frontières. 24 Jahre hat André an der Gessnerallee gearbeitet, fast genau so lange wie Bühnentechniker Küde Brun, der Ende des letzten Jahres nach 25 Jahren pensioniert wurde.
Wieso sie so lange geblieben sind? «Wegen des Theaters», sagen sie beide. Theater sei immer in Bewegung und es sei politisch, ein Ort für wichtige gesellschaftliche Debatten. Das Theater hat es aber auch an sich, stets nach vorn zu schauen – und selten zurück. Doch jede Zukunft habe auch ihre Vergangenheit. «Es ist doch seltsam, dass kaum noch jemand von früher weiss.»
Mit «früher» meinen sie den Anfang der 80er-Jahre. Die Jugendunruhen stellen die Stadt auf den Kopf. Es wird mehr Raum gefordert. Für alternative Lebensformen, aber vor allem auch für Kunst und Kultur. Der Wunsch nach einer Alternative zum Stadttheater führt 1989 zur offiziellen Eröffnung der Gessnerallee. Aus ehemaligen Reithallen und Stallungen des Militärs wird eine «Kulturinsel».
Keine Work-Life-Balance
Bereits vor ihrer Anstellung im Haus der Gessnerallee Ende der 90er-Jahre sind André und Küde ein fester Bestandteil der Zürcher Theaterszene. Um Geld zu verdienen, arbeitet André nach der Lehre als Elektriker beim Zürcher Theater Spektakel, das 1980 zum ersten Mal stattfindet. Neu entdeckte Talente aus der Off-Theater-Szene sorgen dort mit eigenwilligen Produktionen für Aufsehen und auch für André geht dort «das Theater als Welt auf». Bis morgens um 4 Uhr wurde auf den Tischen getanzt, erinnert sich der 64-Jährige, «heute muss man schon um 23 Uhr dichtmachen». Mit seinem Mitarbeiterausweis sitzt er jeweils in jeder Vorstellung in der zweiten Reihe und sieht sich alle grossen Produktionen an, «unvergessliche Sachen».
«Das alles könnte man heute nicht mehr machen, es wäre sicherheitstechnisch der Horror.»
Vier Jahre nach dem ersten Theaterspektakel lernt André im Theaterzirkus Federlos Küde kennen. Mit dem Theaterzirkus reisen André und Küde für Projekte durch Europa, mehrfach gar bis nach Nigeria, Ghana, Benin, Zimbabwe, Namibia. Zu ihrem Umfeld zählen zu dieser Zeit die wichtigsten Theatergruppen der Szene. Karl’s kühne Gassenschau, das Theater Klack, Federico Pfaffen, Zirkus Aladin. «Alles Leute, die fürs Theater gelebt haben. Das Theater war das Leben. Das Leben war Theater. Eine Work-Life-Balance kannten wir nicht», sagt André.
Auch Küde erinnert sich: «Wir arbeiteten extrem viel und konnten nicht davon leben.» Im Sommer zieht er jeweils aus seiner Wohnung aus, um mit dem Zirkus auf Tournee zu gehen, im Winter sucht er sich wieder eine neue Bleibe. Die Miete zwischendurch kann er sich nicht leisten. Dafür wird die Theatergruppe jedes Mal überrannt, sobald sie auftritt. Küde: «Wir füllten ein grosses Vakuum, denn die Orte für Kultur waren rar.»
Es sei verrücktes Zeug gezeigt worden, sagt André im Rückblick auf eine Federlos-Tournee: «Ich koordinierte die Scheinwerfer. Die Premiere dauerte vier Stunden. Es gab Feuer, Leute wurden herumgeschleudert. Das alles könnte man heute nicht mehr machen, es wäre sicherheitstechnisch der Horror.»
Leitungsposition nicht um jeden Preis
Mit dem grösser werdenden Kulturangebot steigt in den 80er- und 90er-Jahren auch die Nachfrage nach Eventtechniker*innen. André verdingt sich, wie er sagt, als technischer Leiter bei kommerziellen Produktionen. Einmal muss er den Hauptbahnhof mit 300 Lampen beleuchten. Er bestellt drei Sattelschlepper voller Ware, hat 15 Angestellte unter sich und eine 80-Stunden-Woche. Und er merkt, dass ihm das Technische allein nicht reicht. «Mich interessiert vor allem das, was auf der Bühne passiert. Das ist heute eher atypisch für einen Techniker. Wir sind eine aussterbende Gattung.»
Er heuert in der Gessnerallee an. Auch Küde kommt zur etwa gleichen Zeit ans Haus. Ebenfalls wegen des Theaters, aber auch, weil sich der heute 65-Jährige nach den Jahren als Freelancer und Künstler eine Anstellung mit einem gesicherten Einkommen wünscht. Eine Ausbildung zum Bühnenmeister absolviert er ein paar Jahre später in Deutschland, in der Schweiz gibt es eine solche zu dieser Zeit noch nicht.
Kritik an Gentrifizierung
«Die Theater in Zürich waren damals viel mehr voneinander abgegrenzt, als sie es heute sind», erinnert sich Küde. So hat zum Beispiel das Schauspielhaus ein komplett anderes Publikum als die Gessnerallee. Nur ganz selten gibt es Überschneidungen. Etwa bei den Zürcher Festspielen, die von 1996 bis 2020 jeden Sommer ausgetragen wurden. Dort wurden gemeinsam grosse Produktionen durchgeführt, wie zum Beispiel der 12-stündige Shakespeare-Theatermarathon «Schlachten!» des flämischen Autors Tom Lanoye und des Theaterregisseurs Luk Perceval. «Etwas vom Aufregendsten, was man damals im Theater sehen konnte», sagt Küde. Und etwas, das die Gessnerallee alleine nicht hätte stemmen können.
An der Gessnerallee geht es damals noch eher bescheiden zu und her. Anfangs scheitern die Aufführungen im Winter, weil es ohne Heizung zu kalt ist. Dafür ist der heutige Stall6, das ehemalige Foyer, ein wichtiger Teil des Hauses. Nach den Produktionen trifft man sich dort oft auf ein Bier. Das Restaurant Reithalle gilt eine Zeit lang weitum als eine der besten Theaterkantinen. Das sei heute nicht mehr so, bedauert André. Er kritisiert den Entscheid, als vor vier Jahren im Zuge der neuen Leitungsbesetzung der Gessnerallee auch die Leitung des Restaurants neu vergeben wurde. «Anstatt Restaurant und Theater wieder näher zusammenzubringen, entstand in der heutigen ‹Riithalle› eine eher gentrifizierte Gastrokultur, die inhaltlich nichts mehr mit dem Theater zu tun hat», sagt André.
Die Gessnerallee kam immer zuerst in der Agenda
Trotz der Kritik bleibt er dem Haus stets treu. Besonders Mitte der Nullerjahre, als sich im Zuge eines Intendantenwechsels die Zahl der Vorstellungen pro Jahr plötzlich verdreifacht, zeigt sich, wie eingespielt das Team ist. «Es lief sehr viel mit einem extrem guten technischen Team. Das brachte viel Identität.»
Auch Küde mag seinen Job als – wie er sagt – «Bodenpersonal». Seine Hauptaufgabe ist es, mit den Gruppen die Bühnenbilder zu produzieren und ihnen beim Aufbau zu helfen. Immer wieder ist er auch für den Abenddienst zuständig und später auch für die Ausbildung der Jugendlichen, die an der Gessnerallee die Lehre zur/zum Veranstaltungsfachfrau/fachmann absolvieren. Während 20 Jahren ist er zusätzlich im Vorstand des Vereins Theaterhaus Gessnerallee. «Ich mochte die Abwechslung und Vielseitigkeit, die der Job mit sich brachte. Mit der Zeit verfestigte sich auch die Beziehung zu den Gruppen, die immer wieder kamen.»
Es seien viele berührende Momente entstanden. Ein Höhepunkt war eine Produktion der belgischen Gruppe Peeping Tom, für die Statisten gesucht wurden. «Ich war einer davon, und das war schon sehr speziell für mich», erinnert sich Küde. Es habe aber auch Dramen gegeben, wie so oft im Theater. Proben, bei denen die verantwortlichen Personen überfordert waren, nicht mehr geschlafen haben, auf der Bühne aufeinander losgegangen sind. Unfälle gab es bis auf einen Bandscheibenvorfall eines Mitarbeiters zum Glück keine schweren. «Eigentlich eine gute Bilanz.»
««Das Leben wurde komplizierter, wir mussten immer mehr auf Befindlichkeiten achtgeben, alles brauchte mehr Zeit.»»
Für André kommt die Gessnerallee immer an erster Stelle in der Agenda, dann die Familie und zum Schluss der zweite Job als Freelancer für andere Theaterproduktionen. Der Job sei auch für die Beziehung nicht einfach gewesen, fügt Küde hinzu. Schuld sind vor allem die unregelmässigen Arbeitseinsätze, die mit wenig Vorlaufzeit geplant werden. Oft wird um die Einsatzzeiten gestritten. Küde: «Da dachte ich mir manchmal: Wieso tust du dir das an?»
Früher sei klar gewesen: Wenn man im Theater arbeitet, dann zu 120 Prozent, sagt André. Heute sei das anders. «Das ist doch gut so und auch ein Zeichen einer gewissen Professionalisierung», ergänzt Küde. Nicht zuletzt durch die Covid-Pandemie habe man gemerkt, dass man sich selbst Sorge tragen muss und dass die Ressourcen nicht endlos sind.
Alle 20 Jahre nackte Körper
Die zwei Veranstaltungstechniker haben die Veränderungen in der Theaterlandschaft seit der Jahrtausendwende vor allem von innen miterlebt. Die Diskurse, die zu Beginn von der Gessnerallee angestossen worden seien und dann immer mehr von aussen gekommen seien, die zunehmende Verwaltung des Betriebs.
Wenn früher das japanische Staatsballett ans Theater Spektakel eingeladen worden sei, habe man drei Fax-Nachrichten geschickt – und danach seien sie aufgetreten. Heute seien fünf Leute beteiligt, man fülle fünf Ordner und trotzdem könne die Aufführung danach womöglich nicht stattfinden.
«Das Leben wurde komplizierter, wir mussten immer mehr auf Befindlichkeiten achtgeben, alles brauchte mehr Zeit.» Früher habe man einfach Theater machen wollen. «Achtung, fertig, los. Wir hatten Glück, eine extrem geile Zeit erwischt zu haben», sagt André.
Er erinnert sich an die geheimen Keller dieser Stadt, noch bevor es die Gessnerallee und das Theater Spektakel gab. Wo Performances gezeigt wurden, die in dieser Form erst mehr als 10 Jahre später auf den grossen Bühnen zu sehen waren. «Blut anzapfen und daraus Blutwürste machen zum Beispiel», sagt André. Im Theater habe es schon immer Wellen gegeben. Eine Zeit lang seien alle nackt auf der Bühne gestanden. «Dann war die Welle vorbei und 20 Jahre später waren für ein paar Jahre wieder alle nackt.» Dann arbeiteten plötzlich alle Kunstschaffenden mit Wasser – 15 Jahre später wieder das Gleiche. Jetzt sind wir gerade in einer Naturwelle. Die wird in 20 Jahren wahrscheinlich wieder kommen.»
Obwohl André und Küde sich seit 40 Jahren Stücke anschauen, gibt es trotzdem immer wieder diese einen Momente. In denen fühlen sie sich wie kleine Jungs, die zum ersten Mal ein Theater besuchen. «Das ist mir vor wenigen Monaten an den Schweizer Tanztagen bei einer Show einer Künstlerin aus Genf passiert, die mich total fasziniert hat. So etwas passiert zwar nicht mehr so häufig, aber wenn, dann finde ich es grossartig», sagt André. Man dürfe ihre Generation als Zielgruppe nicht vergessen, sagt Küde. Zu seiner Pensionierung hat er eine Saisonkarte für die Gessnerallee geschenkt bekommen. Auf eine solche hofft André zu seinem Abschied diesen Herbst ebenfalls.
Am liebsten auf Lebenszeit.
Zur Autorin
Rahel Bains, *1989, ist Leiterin Kommunikation an der Gessnerallee. Davor war sie 15 Jahre lang als Journalistin und Moderatorin tätig. Unter anderem war sie Redaktionsleiterin des Stadtmagazins «Tsüri.ch» und Dienstredaktorin beim «Tages-Anzeiger».
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